Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 39

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Die Aktion des Kabinetts Waldeck-Rousseau ist ein getreues Spiegelbild dieser radikalen Politik. Wenn man nämlich die heutige „vereinigte Linke“, auf die Jaurès die ganze gegenwärtige Politik des Sozialismus aufbauen will, als eine kompakte politische Gruppe auffaßt, die sich zur Sanierung und Reformierung der Republik zusammengetan hat, so liegt darin die gleiche Überschätzung wie in jener Auffassung, wonach das nationalistische Lager eine kompakte Masse mit ernsten monarchistischen Bestrebungen darstellt.

Ganz im Gegenteil sehen wir hier die verschiedenartigsten Elemente, die alle Schattierungen vom Sozialismus bis zur Reaktion repräsentieren – der äußerste rechte Flügel, die Progressisten der Gruppe Isembère streifen schon mit dem Ärmel die Schutztruppen Mélines. Innerlich zersplittert, hat sich die heutige Linke nur in dem gemeinsamen Bedürfnis nach der Herstellung der äußeren Ruhe und Ordnung zusammengefunden. Ist diese Aufgabe erfüllt – und das famose Amnestiegesetz erscheint unter den gegebenen Verhältnissen als ihre klassische Lösung –, so tritt das bindende Interesse in den Hintergrund, die Linke zerfällt, und die Regierung der republikanischen Rettung hängt in der Luft. Die Tatsache, daß in derselben Kammer das Kabinett Méline im Anfang eine Mehrheit hatte, beweist, daß die heutige Mehrheit nur eine vorübergehende ist. Und die neuliche Wahl Deschanels zum Kammerpräsidenten, die nur durch den Verrat eines Teiles der Linken an dem eigenen Kandidaten Brisson möglich war, zeigt, daß der Zerfall der Linken nur noch eine Frage der Zeit ist.

Aus dieser Lage ergibt sich ganz logisch das Verhalten des Kabinetts Waldeck-Rousseau. Ohne die Möglichkeit, irgendeine durchgreifende Aktion vorzunehmen, sieht es sich notgedrungen darauf beschränkt, die in der Krise zugespitzten Gegensätze durch eine Reihe von Kapitulationen abzustumpfen und so, getreu den Traditionen des Radikalismus, wieder einmal durch die Übernahme der Regierungsgewalt ohne die Voraussetzungen zur Durchführung des eigenen Programms zum Verräter am eigenen Programm zu werden.

Die Regierung Waldeck–Millerand ist also nicht, wie Jaurès annimmt, der Anfang einer neuen Ära der Herrschaft der Demokratie auf Grundlage der radikal-sozialistischen Allianz. Sie ist vielmehr die Fortsetzung der früheren Geschichte des radikalen Kleinbürgertums, das berufen ist, nicht das eigene demokratische Programm zu verwirklichen, sondern durch periodische Wegräumung des von der opportunistischen Bourgeoisie aufgehäuften politischen Schmutzes für die normale Fortexistenz der bürgerlichen Reaktion in republikanischer Form zu sorgen. Die mit dem Ministe-

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