Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 376

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Nationalökonomie ist zu Ende. In der Geschichtsforschung hat, wo nicht unbewußter oder inkonsequenter Materialismus herrscht, die Stelle jeder einheitlichen Theorie ein in allen Farben schillernder Eklektizismus, also Verzicht auf einheitliche Erklärung des Geschichtsprozesses, d. h. auf Geschichtsphilosophie überhaupt, eingenommen. Die Ökonomie schwankt zwischen zwei Schulen, der „historischen“ und der „subjektiven“, von denen die eine ein Protest gegen die andre, beide ein Protest gegen Marx sind, wobei die eine, um Marx zu negieren, die ökonomische Theorie, d. h. die Erkenntnis auf diesem Gebiete, prinzipiell negiert, die andre aber die einzige – objektive – Forschungsmethode negiert, die die Nationalökonomie erst zur Wissenschaft gemacht hat.

Freilich bringt noch die sozialwissenschaftliche Büchermesse nach wie vor jeden Monat ganze Berge von Erzeugnissen bürgerlichen Fleißes, und von strebsamen modernen Professoren werden die dickleibigsten Bände mit echt großkapitalistischer, maschinenmäßiger Geschwindigkeit auf den Markt geworfen. Aber es sind entweder fleißige Monographien, wo sich die Forschung wie der Vogel Strauß mit dem Kopfe in den Sand der kleinen Splittererscheinungen vergräbt, um keine größeren Zusammenhänge sehen zu müssen und nur für den Tagesbedarf zu arbeiten, oder wo Gedanken und „Sozialtheorien“ simuliert werden, da ist es im letzten Schluß immer nur ein Reflex des Marxschen Gedankens, unter überladenen Flitterverzierungen im Geschmack der „modernen“ Basarware versteckt. Ein selbständiger Gedankenflug, ein kühner Blick ins Weite, eine belebende Deduktion ist nirgends zu finden.

Und wenn der soziale Fortschritt wieder eine Reihe neuer wissenschaftlicher Probleme aufgestellt hat, die ihrer Lösung noch harren, so ist es wiederum nur die Marxsche Methode, die eine Handhabe zu ihrer Lösung bietet.

Es ist also allenthalben nur Theorielosigkeit, was die bürgerliche soziale Wissenschaft der Marxschen Theorie, Erkenntnisskepsis, was sie der Marxschen Erkenntnis entgegenzustellen vermag. Die Marxsche Lehre ist ein Kind der bürgerlichen Wissenschaft, aber die Geburt dieses Kindes hat der Mutter das Leben gekostet.

Somit hat in der Theorie wie in der Praxis gerade der Aufschwung der Arbeiterbewegung der bürgerlichen, Gesellschaft diejenigen Waffen aus der Hand geschlagen, womit sie gegen den Marxschen Sozialismus zu Felde ziehen wollte. Und heute, 20 Jahre nach Marxʼ Tode, ist sie um so ohnmächtiger ihm gegenüber, Marx aber lebendiger als je.

Freilich bleibt der heutigen Gesellschaft ein Trost übrig. Während sie

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