Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 375

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mus in Frankreich[1], der Verrat des Liberalismus in Belgien[2], der Zusammenbruch des Parlamentarismus in Deutschland[3] – Schlag auf Schlag ging der kurze Traum der „ruhigen Entwicklung“ in Stücke. Das Marxsche Gesetz der tendenziellen Zuspitzung der sozialen Gegensätze als Grundlage des Klassenkampfes brach sich siegreich Bahn, und jeder Tag bringt neue Zeichen und Wunder. In Holland haben 24 Stunden des Eisenbahnerstreiks wie ein Erdbeben über Nacht einen gähnenden Spalt mitten in der Gesellschaft aufgetan, der Klassenkampf loderte aus ihm empor, und Holland steht in Flammen.[4]

So bricht in einem Lande nach dem andern unter dem „Massentritt der Arbeiterbataillone“ der Boden der bürgerlichen Demokratie, der bürgerlichen Gesetzlichkeit wie eine dünne Eisdecke, um der Arbeiterklasse immer von neuem zum Bewußtsein zu bringen, daß ihre Endbestrebungen nicht auf diesem Boden ausgeführt werden können. Dies das Resultat der vielen Versuche, Marx „praktisch“ zu überwinden.

Die theoretische Überwindung des Marxismus haben Hunderte strebsamer Apologeten der Bourgeoisie zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, zum Sprungbrett ihrer Laufbahn. Was haben sie erreicht? Sie haben es fertiggebracht, in den Kreisen der gläubigen Intelligenz die Überzeugung von den „Einseitigkeiten“ und „Übertreibungen“ Marxens hervorzurufen. Aber selbst ernstere unter den bürgerlichen Ideologen, wie Stammler[5], haben eingesehen, daß „gegenüber einer so tief angelegten Lehre“ mit „jenen Halbheiten, mit ‚etwas mehr oder weniger‘“ nichts erreicht werden könne. Allein, was vermag die bürgerliche Wissenschaft der Marxschen Lehre als Ganzes entgegenzustellen?

Seit Marx auf dem Gebiete der Philosophie, der Geschichte und der Ökonomie den historischen Standpunkt der Arbeiterklasse zur Geltung gebracht hat, ist der bürgerlichen Forschung auf diesen Gebieten der Faden abgeschnitten. Die Naturphilosophie im klassischen Sinne ist zu Ende. Die bürgerliche Geschichtsphilosophie ist zu Ende. Die wissenschaftliche

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[1] Am 28. Mai 1902 mußte die Regierung Waldeck-Rousseau, in der der Sozialist Alexandr-Étienne Millerand seit Juni 1899 Handelsminister war, zurücktreten. (Siehe dazu S. 160–180.)

[2] Im April 1902 hatte sich in Belgien die liberale Bourgeoisie trotz des Bündnisses mit der Arbeiterpartei zum Kampf für das allgemeine Wahlrecht offen arbeiterfeindlich verhalten. (Siehe dazu Rosa Luxemburg: Eine taktische Frage. In. GW, Bd. 1/2, S. 181–185; dies.: Die Ursache der Niederlage. In: ebenda, S. 208–211.

[3] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Sozialdemokratie und Parlamentarismus. In. GW, Bd. 1/2, S. 447–455.

[4] Einen Streik der Hafenarbeiter und Eisenbahner von Amsterdam und Rotterdam Ende Januar 1903 hatte die Regierung zum Anlaß genommen, dem Parlament Gesetzentwürfe gegen das Streikrecht der Arbeiter vorzulegen. Gegen die Ausstandsvorlagen war es zu vielen Protestversammlungen unter der Arbeiterschaft gekommen.

[5] Rudolf Stammler, ein Rechtsphilosoph, bekämpfte von der Position des Neukantianismus aus den Marxismus.