Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 374

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Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewußt nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.

Auf diese Weise ist alles: die sittliche Kraft, mit der wir die Fährnisse überwinden, unsre Taktik im Kampfe bis in die Einzelheiten, die Kritik, die wir an den Gegnern üben, unsre tägliche Agitation, die uns die Massen gewinnt, unser gesamtes Tun bis in die Fingerspitzen, durchdrungen und durchleuchtet von der Lehre, die Marx geschaffen. Und wenn wir uns hie und da der Illusion hingeben, unsre heutige Politik mit all ihrer inneren Macht wäre unabhängig von der Marxschen Theorie, so zeigt das nur, daß wir in unsrer Praxis Marx reden, wie der molièrische Bourgeois Prosa redete, auch wo wir es nicht wissen.

Es genügt, sich die Leistung Marxens vor die Augen zu führen, um zu verstehen, daß Marx sich durch die von ihm im Sozialismus wie in der Arbeiterpolitik herbeigeführte Umwälzung die bürgerliche Gesellschaft zum Todfeind machen mußte. Für die herrschenden Klassen ward es klar: Die moderne Arbeiterbewegung überwinden heißt Marx überwinden. Die 20 Jahre seit Marxʼ Tode sind eine ununterbrochene Reihe von Versuchen, den Marxschen Geist in der Arbeiterbewegung theoretisch und praktisch zu vernichten.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung von Anfang an ringt sich hindurch zwischen dem revolutionär-sozialistischen Utopismus und der bürgerlichen Realpolitik. Den historischen Boden der ersteren bildete die ganz- oder halbabsolutistische, vorbürgerliche Gesellschaft. Der revolutionär-utopistische Abschnitt des Sozialismus in Westeuropa schließt im großen und ganzen mit der – obwohl wir einzelne Rückfälle bis in die neueste Zeit beobachten – Entfaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft ab. Die andre Gefahr – das Versinken in der Flickarbeit der bürgerlichen Realpolitik – kommt erst mit der Erstarkung der Arbeiterbewegung auf dem Boden des Parlamentarismus auf.

Aus dem bürgerlichen Parlamentarismus sollten auch die Waffen zur praktischen Überwindung der revolutionären Politik des Proletariats entnommen werden, der demokratische Zusammenschluß der Klassen und der soziale Frieden der Reform sollten den Klassenkampf ersetzen.

Und was hat man erreicht? Die Illusion mochte hier und da eine Weile dauern, die Untauglichkeit der bürgerlichen Methoden der Realpolitik für die Arbeiterklasse hat sich sofort erwiesen. Das Fiasko des Ministerialis-

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