Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 373

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heit aus den Klassen- und Gruppeninteressen, aus den Widersprüchen des materiellen Lebens und in letzter Instanz „aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ erklären müsse.

Und was gibt uns auch die Fähigkeit, unsre Politik neuen Erscheinungen des politischen Lebens, wie z. B. der Weltpolitik, anzupassen und sie vor allem, auch ohne besonderes Talent und Tiefsinn, mit einer Tiefe des Urteils einzuschätzen, die den Kern selbst der Erscheinung trifft, während die talentvollsten Kritiker der Bourgeoisie nur an ihrer Oberfläche tasten oder sich bei jedem Blick in die Tiefe in ausweglose Widersprüche verwickeln? Wiederum nichts andres als der Überblick über den historischen Entwicklungsgang an der Hand des Gesetzes, daß es „die Produktionsweise des materiellen Lebens“ ist, die „den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß bedingt“.

Vor allem aber, was gibt uns einen Maßstab bei der Wahl der einzelnen Mittel und Wege im Kampfe, zur Vermeidung des planlosen Experimentierens und kraftvergeudender utopischer Seitensprünge? Die einmal erkannte Richtung des ökonomischen und politischen Prozesses in der heutigen Gesellschaft ist es, an der wir nicht nur unsren Feldzugsplan in seinen großen Linien, sondern auch jedes Detail unsres politischen Strebens messen können. Dank diesem Leitfaden ist es der Arbeiterklasse zum erstenmal gelungen, die große Idee des sozialistischen Endziels in die Scheidemünze der Tagespolitik umzuwechseln und die politische Kleinarbeit des Alltages zum ausführenden Werkzeug der großen Idee zu erheben. Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, daß die bürgerliche Politik vom Standpunkte der materiellen Tageserfolge real, während die sozialistische Politik es vom Standpunkte der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist. Es ist genau derselbe Unterschied wie zwischen einer vulgärökonomischen Werttheorie, die den Wert als eine dingliche Erscheinung vom Standpunkte des Marktstandes, und der Marxschen Theorie, die ihn als gesellschaftliches Verhältnis einer bestimmten historischen Epoche auffaßt.

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