Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 367

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/367

geistigen Bedürfnisse der Angehörigen der herrschenden Klasse zu befriedigen.

In der Geschichte der bisherigen Klassenkämpfe vermochten auch die aufstrebenden Klassen – wie der dritte Stand in der Neuzeit –, ihrer politischen Herrschaft die intellektuelle Herrschaft vorauszuschicken, indem sie der veralteten Kultur der verfallenden Periode noch als unterdrückte Klasse eine eigene, neue Wissenschaft und Kunst entgegenstellten.

Das Proletariat befindet sich darin in einer ganz andren Lage. Als besitzlose Klasse vermag es auch in seinem Aufwärtsstreben keine eigne geistige Kultur aus freien Stücken zu schaffen, solange es im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft bleibt. Innerhalb dieser Gesellschaft und solange ihre wirtschaftlichen Grundlagen bestehen, kann es keine andre Kultur geben als bürgerliche. Die Arbeiterklasse steht als solche, wenngleich verschiedene „soziale“ Professoren schon den Gebrauch von Krawatten, Visitenkarten und Fahrrädern bei den Proletariern als hervorragende Teilnahme am Kulturfortschritt bewundern mögen, außerhalb der heutigen Kultur, und, obwohl sie den materiellen Gehalt sowie die ganze soziale Grundlage dieser Kultur mit eignen Händen schafft, wird sie nur insofern zu ihrer Nutznießung zugelassen, als dies zur befriedigenden Ausfüllung ihrer Funktionen im wirtschaftlichen und sozialen Prozeß der bürgerlichen Gesellschaft erforderlich ist.

Eine eigne Wissenschaft und Kunst wird die Arbeiterklasse erst nach der vollzogenen Emanzipation von ihrer gegenwärtigen Klassenlage zu schaffen imstande sein.

Alles, was sie heute vermag, ist, die Kultur der Bourgeoisie vor dem Vandalismus der bürgerlichen Reaktion zu schützen und die gesellschaftlichen Bedingungen der freien Kulturentwicklung zu schaffen. Selbst kann sie sich in der heutigen Gesellschaft auf diesem Gebiete nur insofern betätigen, als sie sich die geistigen Waffen zu ihrem Befreiungskampfe schafft.

Damit sind aber von vornherein der Arbeiterklasse, d. h. ihren geistig führenden Ideologen, sehr enge Schranken in der intellektuellen Tätigkeit gewiesen. Das Gebiet ihres schöpferischen Wirkens kann nur ein ganz bestimmter Abschnitt der Wissenschaft – die Gesellschaftswissenschaft sein. Da nämlich durch „den besonderen Zusammenhang der Idee des vierten Standes mit unsrer Geschichtsperiode“ die Aufklärung über die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung für den proletarischen Klassenkampf notwendig war, so hat er in der Sozialwissenschaft befruchtend gewirkt, und das Denkmal dieser proletarischen Geisteskultur ist – die Marxsche Lehre.

Nächste Seite »