Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 366

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Beleg für die Schicksale der theoretischen Forschung in unsrer Bewegung überhaupt zu sein.

Der dritte Band des „Kapitals“ ist zweifellos vom wissenschaftlichen Standpunkt erst als die Vollendung der Marxschen Kritik des Kapitalismus zu betrachten. Ohne den dritten Band ist das eigentliche herrschende Gesetz der Profitrate, ist die Spaltung des Mehrwertes in Profit, Zins und Rente, ist die Wirkung des Wertgesetzes innerhalb der Konkurrenz nicht zu verstehen. Aber – und das ist die Hauptsache – alle diese Probleme, so wichtig sie vom theoretischen Standpunkt sind, sind doch ziemlich gleichgültig vom Standpunkte des praktischen Klassenkampfes. Für diesen war das große theoretische Problem: die Entstehung des Mehrwertes, d. h. die wissenschaftliche Erklärung der Ausbeutung, sowie die Tendenz der Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, d. h. die wissenschaftliche Erklärung der objektiven Grundlagen der sozialistischen Umwälzung.

Beide Probleme beantwortet bereits der erste Band, der die „Expropriation der Expropriateure“ als unausbleibliches Endergebnis der Produktion des Mehrwertes und der fortschreitenden Kapitalkonzentration folgert. Damit war das eigentliche theoretische Bedürfnis der Arbeiterbewegung im großen und ganzen befriedigt. Wie der Mehrwert sich unter die einzelnen Ausbeutergruppen verteilt und welche Verschiebungen die Konkurrenz bei dieser Verteilung in der Produktion hervorruft, das hatte für den Klassenkampf des Proletariats kein unmittelbares Interesse.

Und deshalb ist der dritte Band des „Kapitals“ bis jetzt für den Sozialismus im ganzen ein ungelesenes Kapitel geblieben.

Aber wie mit der Marxschen ökonomischen Lehre steht es mit der theoretischen Forschung überhaupt in unsrer Bewegung. Es ist nichts als eine Illusion, zu denken, die aufstrebende Arbeiterklasse könne durch den Inhalt ihres Klassenkampfes aus freien Stücken auf theoretischem Gebiete ins unermeßliche schöpferisch wirken. Sie ist es heute allein, wie Engels gesagt hat, die den Sinn und das Interesse für die Theorie bewahrt hat. Der Wissensdurst der Arbeiterklasse ist eine der wichtigsten Kulturerscheinungen der Jetztzeit. Und sittlich bedeutet der Arbeiterkampf die kulturelle Erneuerung der Gesellschaft. Aber die aktive Wirkung des proletarischen Kampfes auf den Fortschritt der Wissenschaft ist an ganz bestimmte soziale Bedingungen geknüpft.

In jeder Klassengesellschaft ist die geistige Kultur: Wissenschaft, Kunst, eine Schöpfung der herrschenden Klasse und hat den Zweck, zum Teil direkt die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Prozesses, zum Teil die

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