Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 368

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Aber auch schon die Schöpfung Marxʼ, die als wissenschaftliche Leistung ein riesenhaftes Ganzes in sich ist, überschreitet die direkten Anforderungen des proletarischen Klassenkampfes, um deswillen sie geschaffen wurde. Sowohl in der ausführlichen und abgeschlossenen Analyse der kapitalistischen Wirtschaft wie in der historischen Forschungsmethode mit ihrem unermeßlichen Anwendungsgebiet hat Marx viel mehr geboten, als es für den praktischen Klassenkampf unmittelbar notwendig ist.

Nur in dem Maße, als unsre Bewegung in vorgeschrittenere Stadien tritt und neue praktische Fragen aufrollt, greifen wir wieder in das Marxsche Gedankendepot, um neue einzelne Bruchstücke seiner Lehre auszuarbeiten und zu verwerten. Weil aber unsre Bewegung – wie jeder praktische Kampf – noch lange mit alten leitenden Gedankengängen auskommt, nachdem sie bereits ihre Gültigkeit verloren haben, so schreitet die theoretische Verwertung der Marxschen Anregungen nur äußerst langsam vorwärts.

Wenn wir deshalb jetzt in der Bewegung einen theoretischen Stillstand verspüren, so ist es nicht, weil die Marxsche Theorie, von der wir gezehrt, der Entwicklung unfähig sei oder sich „überlebt“ habe, sondern umgekehrt, weil wir die wichtigsten geistigen Waffen, die uns in dem bisherigen Stadium zum Kampfe notwendig waren, der Marxschen Rüstkammer bereits entnommen haben, ohne sie damit zu erschöpfen; nicht, weil wir im praktischen Kampf Marx „überholt“ haben, sondern umgekehrt, weil Marx in seiner wissenschaftlichen Schöpfung uns als praktische Kampfespartei im voraus überholt hat; nicht, weil Marx für unsre Bedürfnisse nicht mehr ausreicht, sondern weil unsre Bedürfnisse noch nicht für die Verwertung der Marxschen Gedanken ausreichen.

So rächen sich die von Marx theoretisch aufgedeckten sozialen Daseinsbedingungen des Proletariats in der heutigen Gesellschaft an den Schicksalen der Marxschen Theorie selbst. Ein unvergleichliches Instrument der geistigen Kultur, liegt sie brach, weil sie für die bürgerliche Klassenkultur untauglich ist, die Bedürfnisse der Arbeiterklasse aber nach Kampfeswaffen weit überschreitet. Und erst mit der Befreiung der Arbeiterklasse aus ihren heutigen Daseinsbedingungen wird mit andren Produktionsmitteln auch die Marxsche Forschungsmethode vergesellschaftet, um zum Wohle der ganzen Menschheit zu ihrem vollen Gebrauch, zu ihrer vollen Leistungsfähigkeit entfaltet zu werden.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 62 vom 14. März 1903.

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