Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 354

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/354

die blanquistische Verachtung für die „parlamentarischen Turniere“ und ähnliche „Kompromisse“ in Anbetracht dessen, daß die Bedingungen für einen breiten täglichen Klassenkampf bereits vorhanden waren, eine mehr oder weniger unschädliche Phrase bleiben. Hier mußte die Theorie, in deren Richtung die Sozialisten auf Schritt und Tritt unwillkürlich von der Praxis des politischen Lebens und dem sich immer mächtiger entwickelnden elementaren Klassenkampf gedrängt wurden, nach einer gewissen Zeit siegen und die ihr widersprechende Taktik beseitigen, was auch, wie wir sagten, tatsächlich stattgefunden hat!

Im Königreich dagegen, unter den Bedingungen der absolutistischen Regierungen des Zarismus, war die Verachtung des „bürgerlichen Liberalismus“ kein Ausdruck der Enttäuschung, genauer gesagt, des Unverständnisses für den historischen Wert der schon erworbenen demokratischen Formen, sondern der Gleichgültigkeit, sie zu erringen.

Aber in Anbetracht dessen, daß gerade die Beseitigung des Zarismus und die Eroberung demokratischer Formen innerhalb des russischen Staates eine Frage von Leben und Tod für die sozialistische Bewegung ist, mußte also die Taktik des „Proletariat“, die diese Lebensfrage auf so verhängnisvolle Weise beiseite schob, einen entscheidenden Einfluß ausüben. Ganz anders als in der Geschichte der französischen Blanquisten, mußte hier die Taktik die praktische Bedeutung der ihr widersprechenden propagierten Theorie zunichte machen oder, genauer gesagt, alle Begriffe der Theorie nach ihrem Muster umformen.

Die Aufgaben des Historikers und Kritikers gesellschaftlicher Theorien wären im Grunde genommen eine äußerst platte und einfache Sache, wenn die Worte und Begriffe stets denselben ideologischen Inhalt, sozusagen im erstarrten Zustand, enthielten, wenn sie Umlaufzeichen für stets dieselben ideologischen Werte wären. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt, und man kann in gewissem Sinne sagen, obwohl es paradox klingt, daß nichts eine so ungenaue Vorstellung über das geistige Antlitz irgendeiner Partei der Vergangenheit gibt wie ihre eigenen Worte.

Wollte irgend jemand die Partei „Proletariat“ lediglich auf Grund der von ihr in Veröffentlichungen geäußerten allgemeinen Ansichten über die Grundlagen und Aufgaben des Sozialismus beurteilen, so müßte er über den Nachdruck erstaunen, mit dem sie bis zum Ende Anschauungen aus dem theoretischen Schatz des Marxismus wiederholte. Da wir jedoch die konkrete Art und Weise kennen, in der das „Proletariat“ seine allgemeinen Grundsätze und die für seine Tätigkeit daraus gezogenen Schlußfolgerungen anwandte, wissen wir, daß es mit der Zeit nur noch

Nächste Seite »