Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 352

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historische und soziale Weltanschauung bildete. Diese Grundlage war eben die Theorie der Volkstümler.

Wie wir wissen, stützte sich der Blanquismus auf die Vermutung, daß es möglich sei, die bestehende Ordnung beliebig zu stürzen und die sozialistische Ordnung einzuführen, ohne sich dabei auf eine andere Legitimation berufen zu können als auf die entscheidende Kraft der politischen Gewalt. Die Theorie der Volkstümler füllte diese Lücke glücklich aus, wenn nicht durch eine allgemein-soziale Doktrin, so wenigstens mit Hilfe der rein russischen Theorie der Obschtschina.

Da die Volkstümler in den Überresten des russischen Gemeindeeigentums, das übrigens, wie wissenschaftliche Untersuchungen längst nachgewiesen haben, eine Schöpfung rein staatlichen fiskalischen Charakters war, verbunden mit der Institution der Leibeigenschaft – da sie also in diesen Überresten ein natürliches Prinzip der Volkswirtschaft und der Psyche des russischen Bauerntums sahen, meinten sie, daß sie in den Überbleibseln der Obschtschina den archimedischen Punkt zur direkten Einführung des Sozialismus in Rußland besitzen. Die Umgehung aller Entwicklungsphasen im Sinne der blanquistischen Aktion fand hier also eine scheinbare Begründung in dem besonderen System der russischen Dorfwirtschaft, nach der die Entwicklung der kapitalistischen Produktion und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in Rußland geradezu eine Abweichung und Umkreisung des geradesten und kürzesten Weges zum Sozialismus zu sein schien.

Indem die „Narodnaja Wolja“ diese Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands von den Volkstümlern übernahm, stand sie in ihrer Auffassung über die Aktion und die unmittelbaren Aufgaben des Sozialismus gewissermaßen auf festem Boden. Inwieweit die Theorie des „eigenständigen“ historischen Weges Rußlands falsch war, wissen wir schon auf Grund einer allseitigen Beurteilung in den Veröffentlichungen der russischen Gruppe „Befreiung der Arbeit“[1] (oswoboshdenije truda). Aber es geht im vorliegenden Falle nicht um die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Anschauungen, sondern um ihre Übereinstimmung mit der besonderen Taktik der russischen Terroristen.

Und wirklich, da die ökonomische und soziale Grundlage für die Verwirklichung des sozialistischen Ideals in Gestalt der Obschtschina im Schoße der russischen Gesellschaft schon gegeben und fertig war, so brauchte man sich natürlich nur der Staatsmaschinerie zu bemächtigen und

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[1] Im Herbst 1883 hatte G. W. Plechanow die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ gegründet. Sie war die erste russische Organisation, die das Volkstümlertum vom marxistischen Standpunkt aus kritisierte.