Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 351

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/351

mus“ – die materialistische Geschichtsauffassung, die Theorie des Klassenkampfes, die Theorie der allmählichen gesellschaftlichen Entwicklung – mit der Taktik, beliebig Revolutionen „zu machen“, und mit dem Glauben an die Allmacht der politischen Gewalt anfangs wenig übereinstimmten, so war doch diese Verbindung für den französischen Sozialismus ein gewaltiger Fortschritt, von dem ab die neue Epoche in der Geschichte dieser einflußreichen Fraktion der Arbeiterbewegung Frankreichs datiert.

Seitdem näherten sich nämlich die französischen Blanquisten nicht nur in der Theorie, sondern auch in ihrer Auffassung der unmittelbaren Aufgaben immer mehr dem Standpunkt der Sozialdemokratie. Schon in den neunziger Jahren war die Partei Édouard Vaillants nur noch dem Namen nach „blanquistisch“, in Wirklichkeit jedoch vollkommen sozialdemokratisch. Die unlängst vollzogene völlige Vereinigung[1] dieser Organisation mit der Partei der französischen Marxisten krönte eine natürliche Entwicklung, deren Weg die Blanquisten schon in den siebziger Jahren beschritten hatten.

Für den polnischen Sozialismus, dessen Ausgangspunkt der „deutsche Kommunismus“ zu Beginn der achtziger Jahre war, bedeutete jedoch die Verbindung der Marxschen Doktrin mit der blanquistischen Taktik der „Narodnaja Wolja“ durchaus keinen Schritt vorwärts in seiner eigenen Entwicklung, noch sicherte sie ihm zugleich die Überlegenheit über den damaligen russischen Sozialismus. Im Vergleich zum russischen Sozialismus hatte er im Gegenteil an innerer Einheitlichkeit und Konsequenz verloren.

Da es, wie wir sagten, eine Tatsache ist, daß sich der Blanquismus in seinem eigentlichen Vaterland, in Frankreich, zu keiner eigenen Gesellschaftstheorie finden konnte, wodurch er gezwungen war, fremde, sogar seinem Wesen widersprechende Theorien zu übernehmen, so stellt in dieser Hinsicht gerade der russische Sozialismus eine Ausnahme dar.

Hier fand durch ein besonderes Zusammentreffen von Umständen die Taktik des Blanquismus zum ersten und einzigen Mal in ihrer Geschichte eine bestimmte spezifische Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung, die dem Blanquismus – wenigstens scheinbar – eine gewisse materielle Grundlage gab, eine bestimmte Begründung, die eine abgeschlossene

Nächste Seite »



[1] Am 3. November 1901 hatten sich auf der Konferenz von Ivry zwei Richtungen in der französischen Arbeiterbewegung, die Blanquisten und Guesdisten, zur Parti Socialiste de France (Sozialistischen Partei Frankreichs) zusammengeschlossen. Der erste Landeskongreß vom 26. bis 28. September 1902 in Commentry war für die weitere Festigung dieses Bündnisses von großer Bedeutung.