Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 347

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Im ersten Fall, in der Proklamation an die Arbeiterinnen aus dem Jahre 1883, finden wir zwar nicht die geringsten politischen Schlußfolgerungen aus einem so geeigneten Material, wie es die betreffende Verordnung der Organe der zaristischen Regierung war, aber wir finden wenigstens einen gewissen greifbaren Hinweis für eine praktische Tätigkeit, nämlich einen Appell zur Schaffung von Fabrikvereinigungen und Streikkassen.[1]

Im zweiten Aufruf zur Demonstration auf dem Schloßplatz im Jahre 1885 finden wir schon überhaupt keine nähere und praktischere Losung mehr; die Partei ruft die Arbeitslosen, die auf den Straßen von Warschau nach Brot und Arbeit rufen, dazu auf, die sozialistische Ordnung zu verwirklichen – selbstverständlich notwendigerweise in einer sehr ungehobelten und demagogischen Form.[2]

Auf diese Weise verdrängte die Partei selbst die Massen auf ökonomischem wie auf politischem Gebiet vom direkten Kampf, indem sie die Vollmacht, für sie und in ihrem Namen zu handeln, übernahm.

Zwangsläufig beschränkte sich also das „Proletariat“, das die Massenagitation unaufhörlich verkündete, in Wirklichkeit immer mehr auf die Zirkelpropaganda und im besten Fall darauf, aus der Menge einzelne herauszufischen, um sie der geheimen Parteiorganisation anzugliedern.

Als sich jedoch auf diese Weise der politische Kampf des „Proletariat“ auf die Spekulation mit dem „Ausbruch“ reduziert und sich ihre Agitation bis zur Zirkelarbeit eingeengt hatte, wurde nach einer gewissen Zeit ihr Schwinden zu einer unvermeidlichen Erscheinung.

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[1] „Jede Fabrik, jede Werkstatt, jedes Magazin soll sich zu einem Zirkel zusammenschließen. Richtet Kassen ein, um den wegen Widerstandes verfolgten Genossinnen zu helfen, um in Zukunft scharenweise die Werkstätten verlassen und eure ‚Herren‘ zu Zugeständnissen zwingen zu können.“ Przedświt, Nr. 15 vom 10. April 1883. [Fußnote im Original]

[2] Nach der Erläuterung der ökonomischen Seite der bürgerlichen Wirtschaft und ihrer Anarchie schließt die Proklamation: „Aber genug damit! Auch wir wollen die Rechte eines Menschen haben. Laßt uns den Starken die Privilegien nehmen, laßt uns die gerechte Arbeit (?) und ihr Produkt teilen.

Genossen! Das ist unser Ziel. Es ist schon Zeit, zu begreifen, daß wir es dann erreichen können, wenn wir uns die Hände reichen und gemeinsam und einträchtig gegen unsere Feinde auftreten, denen wir immer kühner und drohender die Stirn bieten können; und obwohl wir den Sieg noch mit vielen Opfern erkaufen werden, so gehört die Zukunft dennoch uns! Im Namen der Menschenrechte rufen wir alle unsere Arbeiterbrüder unter eine Fahne, unter eine Losung ‚Freiheit, Fabriken und Boden‘, rufen wir alle Menschen guten Willens zum Kampf gegen das Joch auf, das die Menschheit bedrückt. Und noch einmal: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘“ Walka Klas, Nr. 10/11/12 von Februar/März 1885.

Jeder Sozialist muß die sich darbietenden Massenbewegungen benutzen, um immer die weiteren Perspektiven der endgültigen Befreiung des Proletariats zu zeigen. Aber diese Hinweise nehmen für die Massen nur dann einen realen Wert an, wenn zugleich sichtbar der Weg erklärt wird, der zu diesen weiter entfernten Zielen führt. Dermaßen ungreifbare Losungen dagegen, wie die, die das „Proletariat“ verkündete, mußten, wie leicht zu verstehen ist, ein unverständlicher Klang, eine leere Phrase bleiben und vermochten nicht, das Bewußtsein der Massen auch nur um einen einzigen politischen Begriff zu bereichern oder für sie irgendeinen Hinweis für das weitere Vorgehen zu bedeuten. Auf diese Weise mußten sogar derart hervorragende agitatorische Momente wie die beiden obengenannten ohne dauerhafte Folgen für die Bewegung vorübergehen. Um so klarer ist es, daß unter gewöhnlichen Umständen und durch regelmäßige Agitation die Partei „Proletariat“ noch weniger imstande war, einen bestimmten Grad politischen Bewußtseins und aktiven Willens unter den breiteren Massen zu erreichen und sie bis zu einem gewissen Grade zu organisieren.

Auch die ökonomische Agitation und Organisation unter den Massen, auf die das „Proletariat“ in seinen Schriften so viel Gewicht legte, wurden aus demselben Grunde unmöglich. Vom Standpunkt des Ausbruchs, den die Volksmasse „schweigend“ erwartet, verliert ihr ökonomischer Kampf völlig seinen Sinn. In diesem Sinne stellt die Partei auch den Grundsatz in der zweiten Nummer ihrer Warschauer Schrift „Proletariat“ im Artikel „Arbeitslosigkeit und Terror“ auf: „Da die Arbeitslosigkeit dem Arbeiter so wenig Nutzen bringt, dürfen wir sie nur sehr vorsichtig hervorrufen, nachdem wir alle möglichen Erfolgschancen untersucht und berechnet haben. Wenn aber gegen unseren Willen irgendwo eine Verschwörung ausbricht, müssen wir ihr die Richtung und den Charakter eines energischen Kampfes geben, aber nicht eines Massenkampfes, sondern eines individuellen. Wenn uns der ruhige Kampf den Sieg nicht sichert, müssen wir zum bewaffneten Kampf, zum Terror Zuflucht nehmen.“ Und etwas weiter: „Die friedliche Arbeitslosigkeit erreicht das Ziel nicht, sie muß von der Bestrafung derjenigen begleitet sein, die die Ursache ähnlicher Vorkommnisse sind und Elend und Bedrückung verbreiten. Die Massen brauchen wir zu einem solchen Kampf nicht aufzurufen, dieser Kampf muß sich aus der individuellen Tätigkeit ergeben, muß den Charakter einer versteckten geheimnisvollen Strafe und Rache annehmen.“ [Fußnote im Original]