Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 346

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/346

Die angeführten Beispiele können jedoch am allerwenigsten zur Stützung der Behauptung dienen, daß das „Proletariat“ in Polen wirklich eine Massenbewegung hervorgerufen hat oder dazu fähig gewesen ist.

Denn in beiden obigen Fällen hat die Partei zwar bewiesen, daß sie die Notwendigkeit begriffen hatte, die Massen anzusprechen und sie in bestimmten Ausnahmefällen, in Situationen, die unabhängig von ihrem Willen und ihrer Initiative entstanden waren, zu verteidigen. Im ersten Fall nutzte die Partei eine einzelne Verordnung der Behörden geschickt aus und richtete einen kühnen Appell an die Massen zur Abwehr ebendieser Verordnung, im zweiten Fall stand sie vor einer spontanen Demonstration unaufgeklärter und unorganisierter Arbeitermassen und richtete an sie einen Aufruf mit der Aufforderung, sich um ihre Fahne zu scharen. Jedoch beweisen gerade diese beiden Fälle zugleich, daß die Partei „Proletariat“ von ihrem praktischen Standpunkt aus gar nicht in der Lage war, die sich bietenden Gelegenheiten zur Anbahnung einer Massenagitation auf die Dauer auszunutzen. Um das zu vollbringen, hätte die Partei verstehen müssen, den empörten Arbeitermassen irgendwelche direkten, greifbaren Aufgaben, eine unmittelbare, für sie verständliche Aktion zu zeigen. Eine solche Aufgabe wäre gewesen, den erniedrigten Arbeiterinnen und auch den Arbeitslosen zu zeigen, daß die despotische Regierung, daß die politische Rechtlosigkeit der Arbeiter das wichtigste Hindernis auf dem Wege zur Verbesserung ihrer materiellen und sozialen Lage ist, und ihnen gleichzeitig die unbedingte Notwendigkeit der Organisierung für den täglichen Kampf sowohl gegen die Ausbeutung durch einzelne Kapitalisten als auch gegen die zaristische Regierung für die politische Freiheit zu erklären. Mit einem Wort, eine ständige Massenagitation hätte die Partei nur in dem Falle anzubahnen vermocht, wenn sie von vornherein ein Programm für den täglichen – ökonomischen und politischen – Kampf besessen hätte, das eben auf die Aktion der Massen berechnet war.

Indem die Partei „Proletariat“ dagegen sofort die sozialistische Revolution anstrebte, und das auf eigene Faust, der Arbeiterklasse aber bis zum Moment des Umsturzes die Rolle eines passiven Zuschauers zuwies, hatte sie selbstverständlich nichts, worauf sie die Empörung der Massen, durch die sie überrascht worden war, lenken und worin sie sie realisieren konnte.

Zugleich zeigen die beiden genannten Beispiele durch den bis zu einem gewissen Grade darin enthaltenen Unterschied in treffender Weise, wie in dem Maße, wie sich die Partei von einem mehr sozialdemokratischen Standpunkt entfernte, ihre Verbindung mit den Massen immer mehr schwinden mußte.

Nächste Seite »