Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 342

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wir schätzen sie aus einem anderen Grund: Unsere Tätigkeit braucht für ihre Wirksamkeit das Tageslicht, bei dem sie sich breit und frei entwickeln würde, und nur zwangsläufig geht sie zur geheimen Konspiration über. Bei politischer Freiheit ist die Einwirkung auf die Massen erleichtert, wird ihr Bewußtsein schneller geweckt, sammeln sie sich schneller um die Fahne der gesellschaftlichen Idee, wird ihre Organisierung in großem Maßstab möglich. Der Kampf gegen die politischen Hindernisse, die die Regierungen unserer Tätigkeit entgegenstellen, muß besonders dort hartnäckig sein, wo die politische Sklaverei in ihrer ursprünglichen, schamlosen Form herrscht, wo die unbeschränkte Willkür regiert, wo die einfachsten Menschenrechte nicht geachtet werden. Hier muß der Sturz der Regierung einer der Hauptpunkte des sozialistischen Aktionsprogramms sein.“

Es könnte auf Grund der angeführten Worte scheinen, daß das „Proletariat“ dennoch die Notwendigkeit begriffen hatte, politische Freiheiten noch vor dem „Ausbruch“ zu erobern, um die Agitation und Organisation in einem breiten Maßstab zu ermöglichen. Doch auch hier fällt die stark einseitige und flache, formalistische Einschätzung der politischen Freiheiten ausschließlich als technische Hilfsbedingungen der Tätigkeit der Sozialisten auf. Die objektive historische Seite der parlamentarisch-bürgerlichen Regierungsform als unbedingt notwendige Etappe in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst findet hier keine Berücksichtigung. Wenn man dagegen die parlamentarische Demokratie lediglich als ein äußeres Mittel betrachtet, das die Vorbereitung des revolutionären „Ausbruchs“ erleichtert, kommt man selbstverständlich auf logischem Wege nicht zu der Schlußfolgerung, daß der Kampf um die Eroberung demokratischer Formen die notwendige und erste Aufgabe der Arbeiterklasse, sondern daß ihre Erlangung eine angenehme, nicht abzulehnende Eventualität ist, ohne die man jedoch notfalls auch auskommen kann.

Das sind im Grunde genommen die Schlußfolgerungen, die das „Proletariat“ im zweiten Teil des Artikels „Wir und die Regierung“ zieht, und in der fünften und letzten Nummer seiner Warschauer Schrift lesen wir:

„Wenn die von den Fortschritten unserer revolutionären Arbeit erschreckte Regierung sich unserer mehr oder weniger patriotischen Bourgeoisie nähern und wenn sie ihr einige politische nationale Zugeständnisse machen will, um sie zum gemeinsamen Kampf gegen uns zu ermuntern – dann bitte. Wir werden gegen diese Zugeständnisse bestimmt nicht protestieren und werden bemüht sein, alles, was der Bourgeoisie zugestanden wird, gegen sie auszunutzen, gegen die Regierung umzukehren.“

Einen noch deutlicheren Nachdruck auf diese rein blanquistische Auf-

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