Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 34

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ihrer oppositionellen Haltung rücksichtslos durch das Mißtrauensvotum für die Regierung jederzeit unzweideutigen Ausdruck geben können. Aus Rücksichten auf das „geringere Übel“ sehen sich die französischen Sozialisten im Gegenteil häufig gezwungen, eine bürgerliche Regierung mit ihren Stimmen vor dem Sturze zu bewahren. Aber gerade durch das parlamentarische Regime gewinnen die Sozialisten andererseits in ihrem Votum eine scharfe Waffe, die sie der Regierung wie ein Damoklesschwert über dem Haupte halten und womit sie ihrer Kritik und ihren Forderungen Nachdruck verleihen können. Indem Jaurès und seine Freunde sich durch die Ministerschaft Millerands von der Regierung abhängig gemacht haben, haben sie die Regierung von sich unabhängig gemacht; indem sie sich des Mittels begeben haben, durch das Gespenst der Ministerkrise das Kabinett zu Konzessionen zu bewegen, haben sie umgekehrt die Ministerkrise zum Damoklesschwert für sich gemacht, mit dem das Kabinett jederzeit ihre Nachgiebigkeit erzwingen kann.

Ein glänzendes Beispiel dieser Lage des gefesselten Prometheus, in die sich die Gruppe Jaurès selbst versetzt hat, zeigen die gegenwärtigen Verhandlungen über das Assoziationsgesetz[1]. Freilich hat der Freund Jaurèsʼ, Viviani, in einer glänzenden Kammerrede die Regierungsvorlage über die Kongregationen zerzaust und ihr die wahre Lösung der Aufgabe gegenübergestellt. Wenn aber Jaurès nach dieser Rede am anderen Tage nebst den überschwänglichsten Lobsprüchen auf sie der Regierung selbst die Antwort in den Mund legt, mit der sie diese Kritik ablehnen soll[2], wenn er noch vor der Eröffnung der Debatten, vor jedem Versuch, die Regierungsvorlage zu bessern, an die Sozialisten und Radikalen die Losung ausgibt, um jeden Preis die Annahme der Regierungsvorlage zu sichern, so ist damit der ganze politische Effekt der Kundgebung Vivianis vernichtet.

Die Ministerschaft Millerands verwandelt – dies ihre zweite Konsequenz – die sozialistischen Kritiken seiner Freunde in der Kammer in leere Paradestücke, in Schaustellungen der „weiten Horizonte“ des Sozialismus ohne jeden Einfluß auf die praktische Politik der Regierung.

Endlich zeigt sich auch das Weitertreiben der bürgerlichen Parteien durch die Sozialisten in dieser Lage als ein schöner Traum.

Zur Sicherung des Fortbestandes der Regierung erscheint es für die An-

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[1] Dieses Gesetz wurde von Januar bis März 1901 in der französischen Deputiertenkammer beraten und von ihr angenommen. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Die sozialistische Krise in Frankreich. In: GW, Bd. 1/2, S. 46–48.

[2] „Die Regierung wird es freilich nur zu leicht haben zu antworten, daß, wenn sie hinter dem zurückbleibt, was das Programm der Republik ist, wenn sie zunächst bloß die Kongregationen trifft, sie es tut, weil sie zunächst die größten Gefahren abwenden will. Ihre Aufgabe ist es, die Freiheit in die Lage zu versetzen, sich selbst zu verteidigen. (Petite.République vom 17. Januar 1901.) [Fußnote im Original]