Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 33

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parlamentarischen Mehrheit zu geben, sind die Sozialisten darauf angewiesen, der bürgerlichen Mehrheit in stetem Kampfe Konzessionen zu entreißen. Dies erreichen sie aber durch ihre oppositionelle Kritik auf dreierlei Wegen: indem sie mit ihren am weitesten gehenden Forderungen den bürgerlichen Parteien eine gefährliche Konkurrenz bereiten und sie durch den Druck der Wählermassen vorwärtsdrängen; dann, indem sie die Regierung vor dem Lande bloßstellen und sie durch die öffentliche Meinung beeinflussen; endlich, indem sie durch ihre Kritik in und außerhalb der Kammer immer mehr die Volksmassen um sich gruppieren und so zu einer achtunggebietenden Macht anwachsen, mit der Regierung und Bourgeoisie rechnen müssen.

Die um Jaurès gruppierten französischen Sozialisten haben sich mit dem Eintritt Millerands alle drei Wege verschlossen.

Vor allem ist für sie eine rückhaltlose Kritik der Regierungspolitik unmöglich geworden. Wollten sie ihre Schwäche, ihre Halbheiten, ihre Feigheit geißeln, so würden die Hiebe auf ihren eigenen Rücken zurückfallen. Denn ist das republikanische Wirken der Regierung ein Fiasko, dann entsteht sofort die Frage, welche Rolle ein Sozialist in dieser Regierung spielt. Um also die Ministerschaft Millerands nicht zu kompromittieren, sehen sich Jaurès und seine Freunde gezwungen, über alles zu schweigen, was der Arbeitermasse über die Mängel der herrschenden Politik die Augen öffnen könnte. Tatsächlich ist seit dem Bestehen des Kabinetts Waldeck–Millerand aus dem Organ des rechten sozialistischen Flügels, der „Petite République“, alle Kritik der Regierungstätigkeit verschwunden, und jeder Versuch einer solchen Kritik wird von Jaurès augenblicklich als „Nervosität“, „Pessimismus“, „Übertreibung“ zu Boden geschlagen. Die erste Konsequenz der sozialistischen Ministerschaft ist also der Verzicht auf die oberste Aufgabe der Tätigkeit der Sozialdemokratie im allgemeinen und ihrer parlamentarischen Tätigkeit im besonderen: die politische Aufklärung und Erziehung der Massen.

Ferner aber haben die Anhänger Millerands auch dort, wo sie an der Regierungstätigkeit Kritik üben, ihr jede praktische Bedeutung benommen. Ihr Verhalten zu der Amnestievorlage hat gezeigt, daß ihnen, um die Regierung am Ruder zu erhalten, kein Opfer zu groß ist, daß sie auf jeden Fall im voraus entschlossen sind, sobald die Regierung ihnen mit der Vertrauensfrage die Pistole auf die Brust setzt, sie mit ihren Stimmen zu unterstützen. Und damit haben sie sich der Regierung ausgeliefert.

Allerdings sind die Sozialisten in einem parlamentarisch regierten Lande in ihrem Verhalten nicht so frei wie z. B. im deutschen Reichstag, wo sie

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