Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 32

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politischen Bestrebungen der sozialistischen Partei das bleibende, grundlegende Element und die Vereinigung mit den Radikalen das wechselnde, beiläufige ist, sondern daß umgekehrt die Allianz mit den bürgerlichen Demokraten das konstante, feste Element bildet und die jeweiligen politischen Bestrebungen das zufällige Ergebnis davon sind. Schon in der Dreyfus-Kampagne hat der jaurèsistische Flügel die Demarkationslinie zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Lager nicht einzuhalten gewußt. Wenn es sich für die bürgerlichen Dreyfus-Freunde lediglich um die Abstellung der Auswüchse des Militarismus, um die Unterdrückung der Korruption in der Armee, um ihre Sanierung handelte, mußte sich der Kampf der Sozialisten gegen die Wurzel des Übels, gegen die ständige Armee selbst richten. Und stand für die Radikalen die Rechtfertigung des Dreyfus und die Bestrafung der Schuldigen dieses einzelnen Falles im Mittelpunkt der Agitation, so konnte die Angelegenheit Dreyfus für die Sozialisten nur den Angriffspunkt zu einer Agitation für das Milizheer abgeben. Nur in diesem Falle hätten die Dreyfus-Krise und die bewundernswürdigen Opfer Jaurès’ und seiner Freunde dabei agitatorisch dem Sozialismus die enormen Dienste geleistet, die sie hätten leisten können. Tatsächlich hielt sich aber die Agitation des sozialistischen Lagers im großen und ganzen, abgesehen von einzelnen Äußerungen, die auf die Natur der Affäre tiefer eingingen, in denselben Bahnen wie die der bürgerlichen Revisionisten. Bereits hier waren die Sozialisten, trotzdem sie an Ausdauer, Kraftaufwand und Glanz ihrer Kampagne das bürgerliche Lager weitaus übertrafen, politisch nicht der weitergehende, der leitende Teil, sondern die Mit- und Nachläufer der Radikalen. Mit dem Eintritt Millerands in das radikale Ministerium haben sie sich vollends auf den Boden ihrer bürgerlichen Alliierten begeben.

Worin sich die sozialistische Politik von der bürgerlichen unterscheidet, ist der Umstand, daß die Sozialisten als Gegner der gesamten bestehenden Ordnung im bürgerlichen Parlament grundsätzlich auf die Opposition angewiesen sind. Die vornehmste Aufgabe der parlamentarischen Tätigkeit der Sozialisten, die Aufklärung der Arbeiterklasse, findet vor allem in der systematischen Kritik der herrschenden Politik ihre Lösung. Allein, weit entfernt, praktische, handgreifliche Erfolge, unmittelbare Reformen fortschrittlichen Charakters unmöglich zu machen, ist die grundsätzliche Opposition vielmehr für jede Minderheitspartei im allgemeinen, ganz besonders aber für die sozialistische, das einzige wirksame Mittel, praktische Erfolge zu erzielen.

Ohne die Möglichkeit, der eigenen Politik die direkte Sanktion der

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