Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 31

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Im eigenen Lager Jaurèsʼ erheben sich nach und nach Stimmen der Ernüchterung über die Aktion des Kabinetts zur „Demokratisierung der Armee“ und zur „Laizisierung der Republik“ – welcher Leichtsinn! Wie gefährlich, „systematisch und mit nervöser Ungeduld (nach achtzehn Monaten! – R. L.) die ersten Errungenschaften der gemeinsamen Anstrengungen anzuschwärzen“! „Wozu das Proletariat entmutigen?“ (Jaurès, Petite République vom 5. Januar 1901.) Die Regierungsvorlage über die Kongregationen sollte eine Kapitulation vor der Kirche sein? Das können nur „Dilettanten und Virtuosen“ behaupten. Tatsächlich ist sie „die größte Schlacht zwischen der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft, die seit den Gesetzen über die Weltlichkeit der Schule geschlagen worden ist“. (Jaurès, Petite République vom 12. Januar 1901.)

Und im allgemeinen, wenn die Regierung ein Fiasko nach dem anderen einsteckt, bleibt denn dafür nicht „die Sicherheit künftiger Siege“ zum Trost? (Petite République vom 5. Januar.) Auf einzelne Gesetze kommt es ja nicht an, die „republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

Was ist aber nach all den Verschiebungen die „republikanische Gesamtarbeit“? Sie ist nicht mehr die Liquidierung der Dreyfus-Affäre, nicht die Reorganisation der Armee, nicht die Unterwerfung der Kirche. Sobald der Sturz des Ministeriums droht, wird alles preisgegeben, und es genügt, daß die Regierung bei einer beliebigen Maßnahme die Vertrauensfrage stellt, um Jaurès und seine Freunde unter ihr Joch zu beugen. Früher war die Rettung der Republik durch die Verteidigungsaktion der Regierung erforderlich, heute – die Rettung der Regierung durch die Preisgabe der Verteidigung der Republik. Die „republikanische Gesamtarbeit“, das ist heute die Sammlung aller republikanischen Kräfte zur Erhaltung des Ministeriums Waldeck–Millerand am Ruder.

Die Haltung der Gruppe Jaurès gegenüber der Politik der heutigen Regierung steht freilich einerseits zu ihrer Haltung in der Dreyfus-Affäre in schroffem Gegensatz. Andererseits bildet sie aber nur ihre direkte Fortsetzung. Es ist nämlich dasselbe Prinzip der Vereinigung mit der bürgerlichen Demokratie, das vor zwei Jahren dem rücksichtslosen Kampf der Sozialisten um die endgültige Lösung der Dreyfus-Affäre zur Grundlage gedient hat und das sie heute dazu bringt, weil die bürgerliche Demokratie ihre Aufgabe im Stiche läßt, auch ihrerseits die Liquidierung der Affäre und die gründliche Reformierung der Armee und des Verhältnisses der Republik zur Kirche preiszugeben.

Es beweist dies, daß in der Jaurèsschen Taktik nicht die selbständigen

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