Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 30

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Der heldenmütige Picquart, „die Ehre und der Schmuck der französischen Armee“, der „reine Ritter der Wahrheit und Gerechtigkeit“, weist die ihm in Aussicht gestellte Zurückberufung in die Armee zusammen mit der Amnestie als eine Beleidigung zurück – welche Anmaßung! Erweist ihm denn die Regierung mit der beabsichtigten Zurückberufung in die Armee nicht „die eklatanteste Genugtuung“? Freilich, es kommt Picquart auf die gerichtliche Feststellung der Wahrheit an, aber mag Freund Picquart doch nicht vergessen, daß die Wahrheit nicht bloß ihn, den Obersten Picquart, sondern die „ganze Menschheit“ angeht, daß in der Menschheit im ganzen seine, Picquarts, Angelegenheit nur eine winzige Rolle spielt. „In der Tat, in unserem Drange nach der Gerechtigkeit können wir uns nicht auf individuelle Fälle beschränken.“ (Gérault-Richard, Petite République vom 30. Dezember 1900.) „Die republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

Dreyfus, dieses „Stück des menschlichen Leidens in seiner höchsten Pein“, diese „Verkörperung der Menschheit selbst auf dem Gipfel des Unglücks und der Verzweiflung“ (Jaurès, Petite République vom 10. August 1898), Dreyfus wehrt sich verzweifelt gegen die Amnestie, die ihm die letzte Hoffnung auf eine Rehabilitierung abschneidet – welche Unersättlichkeit! Leiden denn seine Henker nicht bereits genug? Esterhazy schleppt sich „zerlumpt und verhungert“ durch die Straßen Londons, Boisdeffre hat aus dem Generalstab „fliehen müssen“, Gonse ist außer der Front und geht „niedergeschlagen umher“, de Pellieux ist „in Ungnade gestorben“, Henry „hat sich die Gurgel abschneiden müssen“, Du Paty de Clam „ist außer Dienst“, was will man mehr? Sind die eigenen Gewissensbisse der Verbrecher nicht Strafe genug für sie? Und: wenn Dreyfus sich mit diesen Schicksalsschlägen nicht zufriedengibt, sondern sich partout auf eine Bestrafung durch menschliche Gerichte versteift – nur Geduld! „Einst wird die Strafe die Elenden schon ereilen.“ (Jaurès, Petite République vom 5. Januar 1901.) Einst! – Jetzt aber muß der gute Dreyfus wohl einsehen, daß es wichtigere Fragen in der Welt gibt als seine „nutzlosen und ermüdenden Prozesse“. (Jaurès, Petite République vom 5. Januar 1901.) „Wir haben Besseres aus der Affäre Dreyfus zu gewinnen als diese Aufregungen und diese Racheakte.“ (Gérault-Richard, Petite République vom 15. Dezember 1900.) „Die republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

Noch ein Schritt weiter, und auch die Kritik an der Regierungspolitik, der die Dreyfus-Kampagne zum Opfer gebracht wurde, erscheint als ein frivoles Spielen mit der Regierung der „republikanischen Verteidigung“.

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