Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 29

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seiner Dreyfus-Kampagne; in einem Augenblick machte Jaurès alles zunichte, was er im Laufe von zwei Jahren geleistet hatte.

Nach dieser Preisgabe ihres politischen Haupteinsatzes machte die Jaurèssche Taktik die weitere Entwicklung mit spielender Leichtigkeit und Eile durch.

Erst gab man, um die Regierung zu retten, widerwillig und mit einem inneren Katzenjammer das Teuerste preis, das Ziel zweijähriger Riesenkämpfe: die „ganze Wahrheit und das volle Licht“. Um aber sein eigenes Festhalten an einer Regierung des politischen Fiaskos zu rechtfertigen, muß man das Fiasko der Regierung ableugnen. Der nächste Schritt, das ist also die Rechtfertigung der Kapitulation der Regierung.

Sie hat die Dreyfus-Affäre erstickt, statt sie zu Ende zu führen? Aber das war notwendig, „um mit den nunmehr zwecklosen und langweiligen Prozessen aufzuräumen, um die Übersättigung der Öffentlichkeit zu vermeiden, die sich bald der Wahrheit selbst verschließen würde“. (Jaurès, Petite République vom 18. Dezember 1900.) Zwar wurde „das ganze loyale und ehrliche Frankreich“ vor zwei Jahren aufgefordert auszurufen: „Ich schwöre, daß Dreyfus unschuldig ist, daß der Unschuldige rehabilitiert wird, daß die Verbrecher bestraft werden.“ (Jaurès, Petite République vom 9. August 1899.)

Aber heute würden „alle diese gerichtlichen Prozeduren eine Lächerlichkeit sein. Sie würden das Land nur ermüden, ohne es aufzuklären, und der Sache selbst schaden, der wir dienen wollen.“ „Die wahre Sanktion der Dreyfus-Affäre“ liegt heute in der „republikanischen Gesamtarbeit“. (Jaurès, Petite République vom 18. Dezember 1900.)

Noch ein Schritt, und die früheren Helden der Dreyfus-Kampagne erscheinen als zudringliche Gespenster, mit denen man nicht schnell genug aufräumen kann.

Zola, der „große Arbeiter der Gerechtigkeit“, „der Stolz Frankreichs und des Menschentums“, der Mann des donnernden „Jʼaccuse!“ (Ich klage an!), erläßt einen Protest gegen die Amnestie, er will nach wie vor „die ganze Wahrheit und das volle Licht“, er klagt wieder an. Welche Verblendung! Sieht er denn nicht, ruft Jaurès, daß es schon „genug Licht“ gibt, damit alle Geister davon durchdrungen werden können? Mag Zola sich für seine vereitelte Rechtfertigung vor dem Gerichtshof damit trösten, daß ihn „der große Richter, die ganze Menschheit“ glorifiziert, und uns mit seinem ewigen „J’accuse!“ nunmehr in Ruhe lassen. „Nur keine Klagen, keine leeren Wiederholungen!“ (Petite République vom 24. Dezember 1900.) „Die republikanische Gesamtarbeit“ ist die Hauptsache.

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