Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 28

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klasse, der Militarismus, stand enthüllt da, und es galt, alle Speere gegen seine Brust zu richten. Die Arbeiterklasse war zum ersten Male berufen, einen großen politischen Kampf auszufechten. Jaurès und seine Freunde haben sie in den Kampf geführt und damit eine neue Epoche in der Geschichte des französischen Sozialismus inauguriert.

Als deshalb das Amnestiegesetz der Kammer vorgelegt wurde, sahen sich die Sozialisten des rechten Flügels mit einem Male vor einen Rubikon gestellt. Es war klar, daß die Regierung, die vor allem zur Liquidierung der Dreyfus-Affäre berufen war, statt „volles Licht“ zu verbreiten, der „ganzen Wahrheit“ zu ihrem Rechte zu verhelfen und die militärischen Gauner auf die Knie zu zwingen, vielmehr Licht und Wahrheit zu ersticken und vor den Gaunern selbst auf die Knie zu fallen sich anschickte. Vom Standpunkt Jaurèsʼ und seiner Freunde war dies ein Verrat an ihren auf die Regierung gesetzten Hoffnungen. Das Ministerium erwies sich als unbrauchbares Werkzeug der sozialistischen Politik und der republikanischen Verteidigung, das Werkzeug kehrte sich wider den Meister. Wollte die Fraktion Jaurès ihrer Haltung in der Dreyfus-Kampagne und der Aufgabe der republikanischen Verteidigung treu bleiben, so mußte sie sofort den Spieß umdrehen und das Amnestiegesetz mit allen Mitteln zu vereiteln suchen. Die Regierung hatte endlich ihre Karten aufgedeckt, es galt, das Spiel zu durchkreuzen.

Aber die Entscheidung über die Amnestievorlage gestaltete sich zugleich zu einer Entscheidung über die Existenz des Ministeriums. Da die Nationalisten sich gegen die Amnestie erklärten und das Kabinett die Vertrauensfrage gestellt hatte, so konnte sich leicht eine Mehrheit gegen die Vorlage und ein Sturz des Ministeriums ergeben.

Jaurès und seine Freunde standen also vor der Wahl: entweder auf die Realisierung des Zieles ihrer zweijährigen Dreyfus-Kampagne oder auf das Kabinett Waldeck-Rousseau, entweder auf „volles Licht“ oder auf das Ministerium, entweder auf die republikanische Verteidigung oder auf Millerand verzichten. Die Waage schwankte nur einige Minuten. Waldeck–Millerand wogen schwerer als Dreyfus, das Ultimatum des Ministeriums erreichte, was die Exkommunikationsmanifeste nicht zu erreichen vermocht hatten: Jaurès und seine Gruppe gaben, um die Regierung zu retten, ihre Dreyfus-Kampagne preis und erklärten sich für die Amnestie.

Die Würfel waren gefallen. Mit der Annahme des Amnestiegesetzes machte der rechte sozialistische Flügel nicht eigene politische Interessen, sondern die Erhaltung der Regierung am Ruder zur Richtschnur seines Verhaltens. Die Abstimmung über das Amnestiegesetz war das Waterloo

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