Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 27

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nahm, und die Stellung der Sozialisten dazu noch im Ungewissen schweben. Der erste entscheidende Schritt, das Amnestiegesetz, hat aber sofort die Situation geklärt. Gerade für die Gruppe Jaurès mußte die Erledigung der Dreyfus-Sache entscheidend sein. Ihre ganze Taktik seit zwei Jahren war auf diese eine Karte gesetzt. Während zweier Jahre bildete der Kampf um Dreyfus die Achse ihrer ganzen Politik, er war für sie „eine der größten Schlachten des Jahrhunderts, eine der größten der menschlichen Geschichte“ (Jaurès, Petite République vom 12. August 1899), die vornehmste Aufgabe der Arbeiterklasse, der nicht nachzukommen „die schlimmste Abdankung und schlimmste Demütigung, die Negation selbst der großen Klassenaufgabe des Proletariats“ wäre. (Petite République vom 15. Juli 1899.) „Toute la vérité! La pleine lumière!“ Ganze Wahrheit, volles Licht! Das war das Ziel der sozialistischen Kampagne. Nichts konnte Jaurès und seine Freunde auf halbem Wege aufhalten, nicht Schwierigkeiten und Manöver der Nationalisten, nicht Proteste der anderen, von Guesde und Vaillant geführten Fraktion des Sozialismus. „Wir führen den Kampf weiter“, ruft Jaurès mit edlem Stolze, „und wenn die Richter von Rennes, hintergangen durch die abscheulichen Manöver der Reaktion, noch einmal den Unschuldigen opfern sollten, um die verbrecherischen Armeehäupter zu retten, morgen noch, trotz der Exkommunikationsmanifeste, trotz der vermeintlichen Berufungen auf die Fälschung, Verkleinerung, Verzerrung des Klassenkampfes, werden wir uns wiederaufrichten, trotz aller Gefahren, um den Generalen und den Richtern zuzurufen: Ihr seid Henker und Verbrecher!“ (Petite République vom 15. Juli 1899.)

Während des Prozesses in Rennes ruft Jaurès mit strahlender Siegeszuversicht: „Was es auch sei, die Gerechtigkeit kommt! Die Stunde der Befreiung naht für den Märtyrer, die Stunde der Strafe naht für die Verbrecher!“ (Petite République vom 13. August 1899.)

Noch im November vorigen Jahres, kurz vor dem Amnestiegesetz erklärt er in Lille: „Was mich anbelangt, ich wollte weitergehen, ich wollte aushalten, bis die giftige Bestie gezwungen wäre, all ihr Gift auszuspeien. Ja, man mußte alle Fälscher, alle Lügner, alle Henker, alle Verräter verfolgen; man mußte sie verfolgen auf die äußerste Spitze der Wahrheit wie auf die äußerste Spitze des Messers, bis sie gezwungen wären, vor der ganzen Welt ihre Verbrechen, die Schmach ihrer Verbrechen einzugestehen.“ (Les deux Méthodes, Lille 1900, S. 5.)

Und Jaurès hatte recht. Die Dreyfus-Affäre hatte alle latenten Kräfte der Reaktion in Frankreich wachgerufen. Der alte Feind der Arbeiter-

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