Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 336

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schen Blanquisten, formulierte im Jahre 1874 in seinem „Offenen Brief an Herrn Friedrich Engels“, der in Zürich in deutscher Sprache erschien, die Theorie, daß die Zarenregierung in Rußland „sich auf keine soziale Gesellschaftsklasse stützt“ und daß sie infolgedessen leicht gestürzt werden „kann und soll“. Dieser Staat, verkündet Tkatschow, „scheint nur aus der Ferne als eine Macht ... Er hat keine Wurzel im ökonomischen Leben des Volks; er verkörpert nicht in sich die Interessen irgendwelches Standes ... Bei Ihnen (in Deutschland, im Westen – R. L.) ist der Staat keine scheinbare Macht. Er stützt sich mit beiden Füßen auf das Kapital, er verkörpert in sich (!!) gewisse ökonomische Interessen ... Bei uns (in Rußland – R. L.) verhält sich diese Angelegenheit gerade umgekehrt – unsere Gesellschaftsform hat ihre Existenz dem Staate zu verdanken, dem sozusagen in der Luft hängenden Staate, der mit der bestehenden sozialen Ordnung nichts Gemeinschaftliches hat, der seine Wurzel im Vergangenen, aber nicht im Gegenwärtigen hat.“[1]

In den Anschauungen der russischen Sozialisten der siebziger und achtziger Jahre war diese Theorie von dem „in der Luft hängenden“ russischen Staat nur ein Teil der Gesamttheorie von der „selbständigen“ Entwicklung Rußlands. Auf ökonomischem Gebiet entsprach ihr die Anschauung, der Kapitalismus in Rußland sei eine „Kunstpflanze“, die von der Zarenregierung auf russischen Boden versetzt wurde, der landwirtschaftliche Gemeindebesitz dagegen sei die eigentliche Form der russischen Volkswirtschaft.

Selbstverständlich wurde das Verhältnis des Wirtschaftssystems in der Gesellschaft zur politischen Ordnung auf diese Weise auf den Kopf gestellt. Soweit von den kapitalistischen Formen die Rede war, erklärte diese Theorie nämlich die ökonomischen Verhältnisse für ein willkürliches Produkt der politischen Macht. Andererseits verblieb der Zarismus nach der Theorie der Volkstümler im vollkommenen Gegensatz zum landwirtschaftlichen Gemeindebesitz, dieser „natürlichen“ Form der Volkswirtschaft. Logischerweise war also auf die Frage, worauf eigentlich die politische Macht in Rußland ihre Existenz stützt, nur die Antwort möglich, daß der Staat in Rußland „in der Luft hängt“ oder, wie es das Programm des Exekutivkomitees der „Narodnaja Wolja“ noch genauer formulierte: „Dieser staatlich-bürgerliche Auswuchs hält sich lediglich mit Hilfe nackter Gewalt.“[2]

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[1] Zit. in: Friedrich Engels: Internationales aus dem Volksstaat, S. 50. [Friedrich Engels: Flüchtlingsliteratur. V. Soziales aus Rußland. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 18, S. 557.] [Fußnote im Original]

[2] Siehe Kalendar Narodnoi Woli, S. 5. [Fußnote im Original]