Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 302

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Alle diese Voraussetzungen sind offenbar heute direkt auf den Kopf gestellt. Statt des Anfangs haben wir vor uns das Ende der politischen Laufbahn der Bourgeoisie, oder vielmehr hat sich das, was Marx und Engels im Jahre 1848 für den Beginn der bürgerlichen Erhebung gegen die feudale Reaktion hielten, zugleich als ihr Abschluß erwiesen, seit dem wir nur einen stetigen fünfzigjährigen Niedergang des bürgerlichen Demokratismus erlebt haben. Das revolutionäre Moment, die revolutionäre Tat ist für die bürgerlichen Klassen ein für allemal zum längst vergessenen Traum, zu einer Jugendtorheit geworden. Die Grundlage der heutigen Experimente mit der Erneuerung der Taktik der „Neuen Rheinischen Zeitung“ bildet nicht die momentane revolutionäre Aufwallung einer jungen Bourgeoisie, sondern der friedliche, alltägliche, „normale“ Sumpf eines greisenhaften bürgerlichen Parlamentarismus, d. h. des zur Norm erhobenen Kompromisses der Bourgeoisie mit dem Feudalismus. Und schließlich steht gegenüber der heruntergekommenen Bourgeoisie heute die Arbeiterklasse als eine selbständige politische Macht ersten Ranges.

In dieser direkt umgekehrten historischen Situation stellt sich die Erneuerung der Taktik der „Neuen Rheinischen“ als eine Karikatur auf dieselbe Marxsche Hypothese von der „Revolution in Permanenz“ dar, die gerade von den Anhängern der Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Demokratie mit der größten Süffisance bei jeder Gelegenheit angelächelt wird. Die Marxsche Zusammenwirkung des Proletariats mit der Bourgeoisie unter dem Kanonenfeuer auf der Barrikade wird verzerrt zum parlamentarischen Kuhhandel der Sozialdemokratie mit dem Liberalismus und zur Teilhaberschaft in Ministerportefeuilles. Die Marxsche Hoffnung, am andren Tage nach dem Siege der Bourgeoisie die Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie zu führen und sie von dem Staatssteuer zu verjagen, um einer proletarischen Diktatur Platz zu machen, verzerrt sich zur „allmählichen Verwirklichung des Sozialismus“ durch parlamentarische Reformen eines sozialistisch-demokratischen Kartells.

Eine Karikatur auf die „Neue Rheinische Zeitung“ ist aber die heutige Taktik der Jaurès u. a. auch noch aus einem andren Grunde. Die Mitwirkung Marxens an der bürgerlichen Demokratie in der Märzrevolution äußerte sich nicht in dem folgsamen Mitmachen aller Erbärmlichkeiten und Verrätereien der Bourgeoisie, sondern darin, daß er diese Erbärmlichkeiten und Verrätereien mit herrischer Hand erbarmungslos peitschte. Wollte Marx auch die Bourgeoisie vorantreiben, so tat er es mit Fußtritten, mit Sporenstacheln, die blutig verwundeten. Und haben die Jaurès u. Co. vergessen, was eine sozialistische Klassenpolitik heißt, so mögen sie

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