Der radikal-demokratische Standpunkt der „Neuen Rheinischen Zeitung“ springt namentlich in ihrer auswärtigen Politik in die Augen. Ihre Losungen : aggressiver Krieg gegen Rußland, Herstellung eines unabhängigen Polens als eines Pufferstaates zwischen Rußland und Deutschland, Krieg mit Dänemark um Schleswig-Holstein, der Optimismus in bezug auf die ungarische Revolution, der unbarmherzige Haß gegenüber den Tschechen und andren slawischen Völkerschaften Österreichs – all dies kann nicht eigentlich sozialistische Arbeiterpolitik genannt werden, operierte vielmehr mit bürgerlichen Methoden der internationalen Politik.
Wenn es Tatsache ist, daß es bis auf den heutigen Tag eine klare, konsequente und bewußte auswärtige Politik des Sozialismus nicht gibt, vielmehr auf diesem Gebiete mehr als auf jedem andren teils reine Sympathiewillkür, teils alte Überlieferungen der bürgerlichen Demokratie herrschen, so ist es doppelt wichtig, was Mehring in seinem Schlußbande für die Erklärung und Beleuchtung der frühesten sozialistischen Kundgebungen auf dem Gebiete der äußeren Politik geleistet hat. Er bietet hier in gewissem Sinne die erste kritische Analyse der „Neuen Rheinischen Zeitung“.
Mancher ihrer Standpunkte ist seitdem von der internationalen Sozialdemokratie unter dem Drucke der veränderten Verhältnisse teils offen und formell, teils stillschweigend einer Revision unterzogen worden, wo aber immer dies geschehen, hebt Mehring sorgfältig den Umschwung hervor und führt ihn auf tatsächliche Verschiebungen zurück. So in bezug auf die slawischen Nationen, desgleichen in bezug auf die ungarische Revolution und namentlich in bezug auf die Polenfrage. Mehring greift in diesem letzten Falle tatsächlich zur eingehenden Würdigung eine Frage der internationalen Politik heraus, die rein methodologisch wohl die interessanteste, zugleich aus naheliegenden Gründen am wenigsten nach ihren tatsächlichen Zusammenhängen bekannte und endlich jetzt wieder bis zu einem gewissen Grade eine aktuelle ist. Der Schlußabsatz, in dem Mehring in knappen Worten die Ergebnisse der Verschiebungen in der Polenfrage seit den Zeiten der „Neuen Rheinischen Zeitung“ zusammenfaßt, kann sicher auch als ein Kommentar zu gewissen Erscheinungen aus der jüngsten Praxis der Parteibewegung dienen:
„So haben sich die herrschenden Klassen des ehemaligen Polens in allen drei Teilungsstaaten[1] mit den herrschenden Klassen dieser Staaten assimiliert. Sie haben die nationale Agitation gänzlich aufgegeben, die nur noch in einem Teile der polnischen Intelligenz und des polnischen Kleinbürger-
[1] Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte Kongreßpolen bzw. „Königreich Polen” wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).