Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 277

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Sozialisten-Revolutionäre vertreten wird, den systematischen Terrorismus, den Terrorismus als zielbewußte Taktik einer bestimmten sozialistischen Organisation, angewendet zur Erzielung eines politischen Effekts. Vor einigen Monaten hatten wir nur mit der ersten Art der terroristischen Anschläge in Rußland zu tun und konnten lediglich unsere tiefe Sympathie für die heldenmütige Selbstaufopferung der Märtyrer des barbarischen Regimes aussprechen. In den letzten Monaten bekommen wir jedoch immer häufiger Nachrichten von einem speziellen terroristischen Komitee der Sozialisten-Revolutionäre, und da müssen wir uns fragen, ob dies auch in der heutigen Situation eine richtige Taktik unserer russischen Genossen ist.

Wir stehen nicht an, offenheraus zu sagen, daß wir dies bezweifeln. Der Terrorismus als System wird das absolute Regime in Rußland von selbst nicht stürzen. Das hat bereits das große Experiment der „Narodnaja Wolja“ bewiesen. Jeder weggeräumte Zar findet einen Nachfolger und jeder getötete Gouverneur desgleichen. Um das Regime zu fällen, muß an seine Wurzel die Axt gelegt werden, die Wurzel des Absolutismus aber, das ist der politische Stumpfsinn der Volksmasse. Abgesehen etwa von einer Kalamität der auswärtigen Politik, wie z. B. einem unglücklichen Krieg, der übrigens an sich nur die Mauern des Absolutismus erschüttern, aber nichts Positives zu erschaffen vermag, kann das Zarentum nur durch eine regelrechte zielbewußte Volkserhebung gestürzt werden, die aber ihrerseits nur durch eine dauernde aufklärende und organisatorische Arbeit vorbereitet werden kann. Die russische Sozialdemokratie hat diese Arbeit seit einigen Jahren unternommen, und die letzten Massendemonstrationen beweisen, wie fruchtbar der Boden und wie richtig die Taktik ist.

Ein systematischer Terrorismus kann nun, wie uns scheint, auf dieses schwierige und langwierige Werk der Organisation der Arbeitermassen störend wirken. Nicht deshalb etwa, weil er einen erwünschten Anlaß zu Repressalien und zur Reaktion bietet. Die Reaktion in Rußland kann nicht füglich ärger werden, und sie bemüht sich auch nicht darum, nach Anlässen zu suchen, weil sie eine ständige Einrichtung, weil sie die Norm im Zarenreiche ist. Aber der Terrorismus kann unseres Erachtens leicht die Massen verwirren und von der Bahn des langsamen alltäglichen politischen Kampfes auf die leichtere Bahn der raschen gewaltsamen Einzelkämpfe drängen. Während ferner der Terrorismus naturgemäß den unmittelbaren Kampf in die Hände einer kleinen geschlossenen Gesellschaft von „Auserwählten“ zu spielen bestrebt ist, ist es jetzt gerade eine Lebensfrage für die russische Revolution, der breiten Volksmasse klarzumachen, daß nur sie selbst, daß sie einzig und allein den Absolutismus zu besiegen imstande ist. Schließ-

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