Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 276

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wieder Mut und Glauben, daß die bis dahin unlösbare Aufgabe der Stürzung der russischen Despotie doch noch in absehbarer Zeit ihrer Lösung entgegengeführt werden könnte, und daraus erklärt sich die warme Teilnahme und das gespannte Interesse, mit denen man die ungewohnten Nachrichten von den Arbeiterdemonstrationen, von den Massenaufzügen in den großen Städten Rußlands aufnahm. Aus allen diesen Einzelnachrichten mußte man den Eindruck eines tiefernsten, achtunggebietenden Kampfes zwischen dem russischen Proletariat und dem Absolutismus gewinnen. Nun will es uns aber scheinen, daß die letzten Nachrichten, die in der deutschen Presse von der terroristischen Partei erscheinen, eher geeignet sind, diesen Eindruck zu erschüttern, als zu befestigen.

Die Frage des Terrorismus in Rußland als einer Waffe im Kampfe mit der zarischen Übermacht kann von verschiedenen Gesichtspunkten angefaßt werden. Handelt es sich um individuelle Akte der Verzweiflung und des Opfermutes einzelner Freiheitskämpfer, um elementare Ausbrüche des zum äußersten getriebenen Volkszornes, dann gehört nur das echte Scharfmachergemüt einer „Post“ oder eine echt deutsche freisinnige Seele à la Tante Voß dazu, um solche reinen Abwehrakte als „Propaganda der Tat“, als Fürstenmord etc. zu verdammen. Jeder rechtlich denkende, politisch anständige Mensch muß den Verzweiflungsakten der von russischen Satrapen mit unmenschlicher Grausamkeit und mit Raffinement niedergetretenen Pioniere der Volksbefreiung seine tiefste Teilnahme, Achtung und Bewunderung zollen. Und da das Gefühl der Rechtlichkeit und der politische Anstand im besseren Sinne heutzutage in Deutschland so ziemlich in der klassenbewußten Arbeiterschaft ihre einzige Vertretung finden, so zeigte sich auch aus Anlaß der Diskussion über das Attentat auf den Wilnaer Gouverneur, v. Wal[1], daß die gesamte sozialdemokratische Presse mit der „Leipziger Volkszeitung“ einig war, als uns die freisinnige „Vossische Zeitung“ wegen der „Verherrlichung“ des Attentäters mit freisinnigem Mut vor Fürstenthronen zu denunzieren versuchte.

Solchen spontanen individuellen Akten des Terrorismus gegenüber, wie im Falle des Studenten Karpowitsch, der den Minister Bogolepow getötet hat[2], oder des Wilnaer Arbeiters Leckert, ist auch die Frage von der Zweckmäßigkeit unangebracht. Sie wird erst berechtigt und notwendig, wenn wir die andere Art des Terrorismus vor uns haben, wie sie von der Gruppe der

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[1] Auf den Gouverneur von Wilna, W. W. von Wal, war im Zusammenhang mit seinem Befehl, die verhafteten Teilnehmer der Feier zum 1. Mai 1902 auszupeitschen, von G. D. Leckert ein Attentat verübt worden. Leckert wurde im Juni 1902 hingerichtet.

[2] Der zaristische Volksbildungsminister, N. P. Bogolepow, war im Februar 1901 getötet worden.