Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 246

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Reform des Gymnasialunterrichts, jedes Projekt einer Arbeitslosenstatistik für ebenso viele Grundsteine der sozialistischen Ordnung. Er erinnert dabei ganz an seinen Landsmann Tartarin aus Tarascon, der in seinem exotischen „Wundergarten“ zwischen den Blumentöpfchen mit fingergroßen Bananen, Baobabs und Kokospalmen sich einbildet, daß er unter dem kühlen Schatten eines tropischen Urwaldes lustwandelt.

Und unsere Opportunisten stecken solche Backenstreiche von der Wirklichkeit wie den jüngsten Verrat des belgischen Liberalismus ein und erklären darauf: Ceterum censeo, der Sozialismus kann nur durch die Demokratie des bürgerlichen Staates verwirklicht werden.

Sie bemerken gar nicht, daß sie dabei nichts anderes tun, als nur mit anderen Worten die alten Theorien wiederholen, wonach die bürgerliche Gesetzlichkeit und Demokratie die Freiheit, Gleichheit und allgemeine Glückseligkeit zu verwirklichen berufen ist, nicht Theorien der Großen Französischen Revolution – ihre Losungen waren erst naiver Glaube vor der historischen Probe aufs Exempel –, sondern Theorien der schwatzhaften Literaten und Advokaten von 1848, der Odilon Barrot, Lamartine, Garnier Pagès, die alle Verheißungen der großen Revolution durch das bloße parlamentarische Geschwätz zu verwirklichen gelobten. Und es war erst nötig, daß diese Theorien ein tagtägliches Fiasko binnen einem Jahrhundert erlebten, daß die Sozialdemokratie als das Fleisch gewordene Fiasko dieser Theorien sie so gründlich begrub, daß sogar die Erinnerung an sie, an ihre Urheber, an das ganze historische Kolorit völlig entschwunden war, damit sie heute als eine ganz frische Idee zur Verwirklichung der sozialdemokratischen Ziele auferstehen konnten. Was den opportunistischen Lehren somit zugrunde liegt, ist offenbar nicht, wie man sich einbildet, die Theorie der Evolution, sondern die der periodischen Wiederholungen der Geschichte, wobei jede neue Auflage immer langweiliger und abgeschmackter wird.

Die deutsche Sozialdemokratie hat unbestreitbar eine äußerst wichtige Revision der sozialistischen Taktik vor Jahrzehnten vollzogen und sich damit ein ungeheures Verdienst vor dem internationalen Proletariat erworben. Diese Revision bestand darin, daß der alte Glaube an die gewaltsame Revolution als die einzige Methode des Klassenkampfes und als das jederzeit anwendbare Mittel zur Einführung der sozialistischen Ordnung verabschiedet wurde. Heute ist es, wie die Pariser Resolution von Kautsky[1] wieder formuliert hat, herrschende Ansicht geworden, daß die Er-

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[1] Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß vom 23. bis 27. September 1900 in Paris war nach längerer Diskussion zum Eintritt Alexandre-Etienne Millerands in die bürgerliche Regierung Waldeck-Rousseau eine von Karl Kautsky ausgearbeitete Resolution angenommen worden, in der dieses Verhalten nicht prinzipiell abgelehnt wurde. Dieser Resolution zufolge konnte die Beteiligung eines Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung von Fall zu Fall entschieden werden.