Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 243

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Daran ist nun das Phantastische der ganzen Theorie des sozialistischen Legalismus zu messen. Während die herrschenden Klassen in vollem Umfang, in ihrem ganzen Tun und Lassen sich auf die Gewalt stützen, soll das Proletariat allein im Kampfe gegen diese Klassen auf den Gebrauch der Gewalt von vornherein und ein für allemal verzichten. Und zwar welches fürchterliche Schwert soll ihm als Waffe zur Niederzwingung der herrschenden Gewalt dienen? Dieselbe Gesetzlichkeit, in der sich die Gewalt der Bourgeoisie zu einer herrschenden, zur gesellschaftlichen Norm stempelt!

Freilich, das Gebiet der bürgerlichen Gesetzlichkeit, des Parlamentarismus ist nicht nur ein Herrschaftsfeld für die kapitalistische Klasse, sondern auch der Kampfboden, worauf die Gegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie zum Austrag kommen. Allein wie für die Bourgeoisie die Rechtsordnung nur ein Ausdruck ihrer herrschenden Gewalt, so kann der parlamentarische Kampf für das Proletariat nur das Streben sein, auch seinerseits seine Gewalt zur Herrschaft zu bringen. Steht hinter unserer gesetzlichen, parlamentarischen Tätigkeit nicht die Gewalt der Arbeiterklasse, jederzeit bereit, im Notfall in Aktion zu treten, dann verwandelt sich die parlamentarische Aktion der Sozialdemokratie in einen ebenso geistreichen Zeitvertreib wie zum Beispiel das Wasserschöpfen mit einem Siebe. Die „Realpolitiker“, die unausgesetzt auf die „positiven Erfolge“ der parlamentarischen Tätigkeit der Sozialdemokratie hinweisen, um sie als ein Argument gegen die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Gewalt im Arbeiterkampf auszuspielen, bemerken gar nicht, daß diese Erfolge selbst bei aller Geringfügigkeit doch nur als ein Produkt der unsichtbaren, latenten Wirkung der Gewalt zu betrachten sind.

Aber nicht genug. Die Tatsache, daß auf dem Grunde der bürgerlichen Gesetzlichkeit doch nur wieder die Gewalt liegt, kommt in den Wechselfällen der eigenen Geschichte des Parlamentarismus zum Ausdruck.

Praktisch äußert sich das in der handgreiflichen Tatsache, daß, falls die herrschenden Klassen einmal im Ernste glauben könnten, hinter unseren Parlamentariern ständen nicht zur Aktion im gegebenen Falle bereite Volksmassen, die revolutionären Köpfe und die revolutionären Zungen wären nicht imstande oder hielten es nicht für zweckmäßig, gegebenenfalls revolutionäre Fäuste zu regieren, daß in diesem Falle der Parlamentarismus selbst und die ganze Gesetzlichkeit uns früher oder später als Boden des politischen Kampfes unter den Füßen weggezogen würden. Dies beweist in positiver. Weise das Schicksal des Wahlrechtes in Sachsen wie in

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