Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 242

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wahres Kunststück des opportunistischen Doktrinarismus ist. Aber auch die Domänen der „Gesetzmäßigkeit“ selbst liefern dafür bei näherem Zusehen Beweise genug. Sind Chinakredite[1] nicht von der „Gesetzmäßigkeit“, vom Parlamentarismus gelieferte Mittel zu Gewaltakten? Sind Gerichtsurteile wie das Löbtauer[2] nicht „gesetzliche“ Ausübung der Gewalt? Ja fragen wir besser: Worin besteht eigentlich die ganze Funktion der bürgerlichen Gesetzlichkeit?

Wenn ein „freier Bürger“ von einem anderen gegen seinen Willen, zwangsweise in ein enges, unwohnliches Gelaß gesteckt und dort eine Zeitlang gehalten wird, so versteht jeder, daß dies ein Gewaltakt ist. Sobald jedoch die Operation auf Grund eines gedruckten Buches, genannt Strafkodex, geschieht und das Gelaß „königlich-preußisches Gefängnis“ oder Zuchthaus heißt, dann verwandelt sie sich in einen Akt der friedlichen Gesetzlichkeit. Wenn ein Mensch von einem anderen gegen seinen Willen zur systematischen Tötung von Nebenmenschen gezwungen wird, so ist es ein Gewaltakt. Sobald aber dasselbe „Militärdienst“ heißt, bildet sich der gute Bürger ein, in vollem Frieden der Gesetzlichkeit zu atmen. Wenn eine Person von einer anderen gegen ihren Willen um einen Teil ihres Besitzes oder Verdienstes gebracht wird, so zweifelt kein Mensch, daß ein Gewaltakt vorliegt, heißt aber dieser Vorgang „indirekte Steuererhebung“, dann liegt bloß eine Ausübung der geltenden Gesetze vor.

Mit einem Worte: Was sich uns als bürgerliche Gesetzmäßigkeit präsentiert, ist nichts anderes als die von vornherein zur verpflichtenden Norm erhobene Gewalt der herrschenden Klasse. Ist diese Festlegung der einzelnen Gewaltakte zur obligatorischen Norm einmal geschehen, dann mag die Sache sich im bürgerlichen Juristenhirn und nicht minder im sozialistischen Opportunistenhirn auf den Kopf gestellt bespiegeln: die „gesetzliche Ordnung“ als eine selbständige Schöpfung der „Gerechtigkeit“ und die Zwangsgewalt des Staates bloß als eine Konsequenz, eine „Sanktion“ der Gesetze. In Wirklichkeit ist umgekehrt die bürgerliche Gesetzlichkeit (und der Parlamentarismus als die Gesetzlichkeit im Werden) selbst nur eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinungsform der aus der ökonomischen Basis emporgewachsenen politischen Gewalt der Bourgeoisie.

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[1] Ende Oktober 1901 war von der französischen Regierung eine Vorlage in der Kammer eingebracht worden, zur Deckung der Kosten für die Teilnahme französischer Truppen an der Niederschlagung der nationalen Befreiungsbewegung in China 1900 eine Anleihe aufzulegen. Diese Vorlage war am 25. November 1901 mit 295 gegen 249 Stimmen gebilligt worden.

[2] Am 3. Februar 1899 waren vom Dresdener Schwurgericht neun Arbeiter aus Löbau wegen geringer Vergehen zu insgesamt 53 Jahren Zuchthaus, 8 Jahren Gefängnis und 70 Jahren Ehrverlust verurteilt worden.