Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 238

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streik nicht die Rede sein. Es ist also durchaus nicht als eine imaginäre Überlegenheit der deutschen Sozialdemokratie und eine momentane Verirrung der romanischen Länder zu betrachten, wenn der Generalstreik als politische Waffe bisher nur in Belgien und zum Teil in Frankreich gebraucht wurde. Es ist dies vielmehr – neben dem Mangel bestimmter sozialer und geographischer Bedingungen – ein Zeugnis mehr für unsere halbasiatische Zurückgebliebenheit in politischer Hinsicht.

Endlich weist das Beispiel Englands, wo alle ökonomischen und politischen Voraussetzungen eines siegreichen Generalstreiks in hohem Maße zutreffen und wo diese mächtige Waffe trotzdem niemals im politischen Kampfe zur Anwendung kommt, auf noch eine wichtige Vorbedingung ihres Gebrauchs hin – auf die innere Verwachsung der gewerkschaftlichen und der politischen Arbeiterbewegung. Während in Belgien der wirtschaftliche Kampf mit dem politischen als ein organisches Ganzes funktioniert, die Gewerkschaften mit der Partei sich in jeder größeren Aktion zusammenfinden, einander auf Schritt und Tritt in die Hand arbeiten, schließt die engherzig gewerkschaftliche, deshalb auch zersplitterte Kirchturmpolitik der Trade-Unions sowie der Mangel einer starken sozialistischen Partei in England ihre Zusammenfassung in politischen Generalstreiks aus.

Die nähere Betrachtung beweist somit, daß alles absolute Beurteilen und Verurteilen des Generalstreiks ohne Rücksicht auf besondere Verhältnisse in jedem Lande und namentlich auf Grund der deutschen Praxis nichts als nationale Überhebung und gedankenlose Schablonisierung ist. Und wieder zeigt es sich bei dieser Gelegenheit, daß, wenn uns mit solcher Beredsamkeit die Vorzüge der „freien Hand“ in der sozialistischen Taktik, des „Sich-nicht-Festlegens“, der Anpassung an die ganze Mannigfaltigkeit der konkreten Verhältnisse angepriesen werden, es sich im Grunde genommen immer nur um die Freiheit im Techtelmechteln mit bürgerlichen Parteien handelt. Steht dagegen eine Massenaktion, eine entfernt nach revolutionärer Taktik aussehende Kampfmethode in Frage, so erweisen sich die Schwärmer für die „freie Hand“ sofort als die engherzigsten Dogmatiker, die den Klassenkampf auf dem ganzen Erdenrund in die spanischen Stiefel der sogenannten deutschen Taktik hineinzwängen möchten.

Wenn nun in Belgien der Generalstreik soeben resultatlos geblieben ist, so kann diese Tatsache schon deshalb zu einer „Revision“ der belgischen Taktik nicht ausreichen, weil notorisch der Generalstreik weder vorbereitet noch eigentlich politisch angewendet, vielmehr von den Führern lahmgelegt und, bevor er überhaupt etwas ausrichten konnte, aufgelöst

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