Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 214

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Am 20. morgens rief noch das Brüsseler Zentralorgan:

„Die Fortsetzung des Generalstreiks, das ist die Rettung des allgemeinen Wahlrechtes!“

Und am gleichen Tage machten die sozialistische Fraktion und der Parteivorstand plötzlich kehrt um! und beschlossen, den Generalstreik einzustellen.

Die gleichen Schwankungen äußerten sich in bezug auf die andere Losung der Kampagne: die Auflösung des Parlamentes. Als am 15. April die Liberalen in der Kammer die Auflösung forderten, enthielten sich die Sozialisten jeder Einmischung, befürworteten also auch nicht die von der Bourgeoisie erwünschte Hinausschiebung des entscheidenden Momentes.

Jetzt, direkt vor dem Entschluß, den Generalstreik aufzulösen, nehmen unsere Genossen plötzlich die Losung wieder auf, und der „Peuple“ vom 20. empfiehlt den Arbeitern: „Erhebt überall einen gewaltigen Ruf nach Parlamentsauflösung!“ Und auch noch im Laufe der letzten Tage machte sich in diesem Punkte im Verhalten der Führer ein Sprung bemerkbar. Noch in der angeführten Nummer des „Peuple“, noch am 20. früh, wird der Generalstreik als das einzige Mittel hingestellt, die Kammerauflösung zu erzwingen. Am gleichen Tage beschloß aber der Parteivorstand, den Generalstreik einzustellen, und nun erscheint als der einzige Weg, die Auflösung des Parlamentes zu erreichen, die Einwirkung auf den König.

So durcheinander in Sprüngen, in Kreuzundquerzügen liefen während der jüngsten belgischen Kampagne die verschiedenen Losungen: die Obstruktion im Parlament, der Generalstreik, die Kammerauflösung, die Intervention des Königs, wobei keine dieser Losungen bis zu Ende durchgeführt und schließlich die ganze Kampagne, ohne jeden ersichtlichen Grund, mit einem Male erstickt und die Arbeitermassen mit verdutzten Gesichtern und leeren Händen nach Hause geschickt wurden.

War von der parlamentarischen Mehrheit die Annahme der Verfassungsrevision nicht zu erwarten, dann ist es unbegreiflich, warum man dem Generalstreik mit solchem Widerstreben und Zögern die Zustimmung gab. Und hatte man im Generalstreik das einzige Kampfmittel erkannt, dann ist es rätselhaft, warum er plötzlich, gerade wo er den richtigen Anlauf nahm, eingestellt wurde.

Konnte man von der Parlamentsauflösung und den Neuwahlen wirklich die Besiegung der Klerikalen erwarten, dann erscheint die Passivität unserer Abgeordneten unerklärlich, als der Antrag auf Parlamentsauflösung von den Liberalen gestellt wurde, und noch unerklärlicher ist die ganze jetzige Kampagne um die Verfassungsrevision, die doch sowieso bei

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