Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 213

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keine Miene, den Generalstreik zu proklamieren. Dieser brach vielmehr aus dem souveränen Entschluß der ungeduldigen proletarischen Masse aus. Am 14. April schrieb der Brüsseler „Peuple“:

„Die Regierung ist, wie man sagt, entschlossen, auszuharren bis zum Äußersten, die Arbeiterklasse ist nicht minder auf alles gefaßt. Und deshalb gerade wurde soeben der Generalstreik im ganzen Lande proklamiert, nicht von politischen Organen der Partei, sondern von ihren ökonomischen Vertretern, nicht von seinen Abgeordneten, sondern von den Gewerkschaftsdelegierten. Es ist das organisierte Proletariat selbst, das soeben feierlich die Arbeit überall niederzulegen beschlossen hat, da es keine anderen Mittel sieht, um zu siegen.“

Und dasselbe konstatierte der Abgeordnete Demblon in der Kammer am 18. April:

„Wer wagte es, noch heute zu sagen, niemand sei in Agitation außer den Agitatoren selbst, angesichts der donnerartigen Explosion des Generalstreiks, die uns selbst ganz unerwartet kam?“ (Siehe den Parlamentsbericht des „Peuple“ vom 19. April.)

Nachdem nun aber der Generalstreik einmal von selbst losgebrochen war, erklärten die sozialistischen Führer sofort ihre Solidarität mit den Arbeitermassen und die allgemeine Arbeitsruhe als das oberste Mittel des Kampfes. Generalstreik bis zum Siege – das wurde nun die von der sozialistischen Fraktion und dem Parteivorstand ausgegebene Losung. Tag für Tag feuerte der „Peuple“ seit dem 15. April die Streikenden an, in ihrer Position auszuharren.

„Aus der Tiefe ihrer Seele“, schreibt er am 16., „hätten die Sozialisten es gewünscht, nicht dazu (zum Generalstreik) gedrängt zu werden, und der Osterkongreß der Partei[1] hatte auch nichts darüber beschlossen, indem er es den Umständen überließ, das richtige Kampfmittel zu bestimmen.“ Aber, führt das belgische Organ weiter aus, „der Generalstreik ist einzig imstande, uns schließlich und trotz alledem den Sieg zu sichern“.

„Es gibt“, hieß es im „Peuple“ am 17., „in der Arbeiterklasse weder Ermüdung noch Entmutigung, wir schwören es in ihrem Namen. Wir kämpfen bis zum Siege.“

„Der Generalstreik“, ruft der „Peuple“ am 18., „wird so lange dauern, als es nötig ist, um das allgemeine Wahlrecht zu erobern!“

Am gleichen Tage beschloß der Generalrat der Arbeiterpartei, nach der Ablehnung der Revision in der Kammer, den Generalstreik fortzusetzen.

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[1] Der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei, der am 30. und 31. März 1902 in Brüssel durchgeführt worden war, hatte gefordert, das allgemeine und gleiche Stimmrecht nach dem Grundsatz: ein Mann, eine Stimme einzuführen und den Grundsatz des Proportionalwahlsystems in die Verfassung aufzunehmen. Das Frauenwahlrecht war verworfen worden.