Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 21

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im Gewühl des Tageskampfes, wo eine Untersuchung des sozialen Hintergrundes der Erscheinungen sehr schwierig, für die Beteiligten fast unmöglich ist, wo naturgemäß die Ereignisse und die Tatsachen übertriebene Dimensionen annahmen, die Gefahr des Staatsstreichs in Frankreich ernst und groß erscheinen konnte, ist leicht begreiflich. Und selbstverständlich war eine energische Aktion der Republikaner im Parlament wie noch mehr außerhalb desselben dringend geboten, um den nationalistischen Pöbel und die Generalstäbler im Zaume zu halten.

Aber heute, nach dem Abschluß der Krise und aus der Ferne dieselbe Auffassung des Tageskampfes nachbeten und in allem Ernst das Ministerium Waldeck-Rousseau und namentlich Millerand als den wahren „Retter“ der französischen Republik feiern ist nichts anderes denn eine Probe des Vulgärhistorismus, der, ein Gegenstück zur Vulgärökonomie, die Geschehnisse, so wie sie sich an der Oberfläche des politischen Lebens darstellen, als das Werk der Minister und anderer „Hauptleute“ der Geschichte statt in ihrem wahren inneren Zusammenhang auffaßt. Millerands Rettung der Republik ist genau so ernst zu nehmen wie die monarchistische Gefahr, die ihr von Déroulède und von Guérin drohte.

In der Tat, sollte die Verteidigung der Republik von der Aktion des Kabinetts Waldeck-Rousseau abhängen, so wäre sie längst zugrunde gegangen. Der Posse des monarchistischen Umsturzes entspricht die Posse der republikanischen Verteidigung.

Selten ist eine Regierung in einem ernsteren Moment ans Ruder gekommen, und selten hat man auf eine Regierung größere Hoffnungen gesetzt. War auch die monarchistische Gefahr mehr ein Schreckgespenst denn Wirklichkeit, so war nicht minder ernst als jene eingebildete die wirkliche Gefahr, die Frankreich drohte, nämlich die Möglichkeit, daß die Republik in dem Guerillakrieg mit den Elementen der Anarchie, den unbotmäßigen Armeehäuptern und den die Auflehnung schürenden Pfaffen, ihre Ohnmacht zeigte, damit also die Wiederholung ähnlicher Krisen in der Zukunft unvermeidlich machte.

Die Augen der ganzen zivilisierten Welt waren auf Frankreich gerichtet. Es galt, seine Lebensfähigkeit als ein geordnetes Staatswesen zu beweisen. Es galt zu zeigen, daß das bürgerliche Frankreich noch so viel Kraft besitzt, die Zersetzungselemente, die es produziert, selbst auszuscheiden und zu neutralisieren.

Die zu ergreifenden Maßnahmen waren durch die Situation selbst diktiert. Wenn die Armee sich zu einem selbständigen Körper ausgewachsen

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