Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 20

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Der Auflehnung der hohen Militärs lag somit die Bestrebung zugrunde, ihre Selbständigkeit der republikanischen Zivilgewalt gegenüber zu behaupten und nicht diese Selbständigkeit an eine Monarchie vollständig zu verlieren.

Aus der geschilderten Sachlage ergab sich naturgemäß der possenhafte Charakter der angeblich monarchistischen Aktion. Ein wütender Federkrieg in der Presse, ein ohrenbetäubender Lärm der antisemitischen Rowdies, Zusammenrottungen und Beifallsgewieher vor den Redaktionen nationalistischer und Geklirr eingeworfener Fensterscheiben in den Redaktionen dreyfusfreundlicher Blätter, Belästigung unbeteiligter Passanten, die luftverpestende Verschanzung Guérins in der Rue Chabrol[1], endlich ein Prügelattentat der goldenen Jugend auf den Präsidenten[2] beim Pferderennen, aber inmitten dieser mit Elektrizität geladenen, nervenerregenden Atmosphäre – nicht eine einzige ernste politische Handlung zur Verwirklichung des Staatsstreichs. Den Kulminationspunkt der Gärung bildete der große historische Moment, wo der überspannte Hanswurst Déroulède dem an der Spitze seiner Mannschaften in die Kaserne einrückenden General Roget in die Zügel fiel, um ihn in emphatischer Pose gegen das Präsidentenpalais im Elysée zu richten[3], ohne selbst die geringste Ahnung zu haben, was Roget denn im Elysée ausrichten und was aus dem ganzen Abenteuer eigentlich herausspringen sollte. Der Gauner im Militärrock war denn auch klüger als der Narr im Zivil, und ein Streich mit dem Degen auf die Finger Déroulèdes war die Antwort auf den „beau geste“ des Antisemitenhäuptlings. So endete der einzige Versuch des monarchistischen Staatsstreichs.

Aus der obigen kurzen Darstellung folgt, daß die Verhältnisse beträchtlich anders lagen, als sie an der Oberfläche aussehen mochten. Hier wie sonst hing das Schicksal der Republik nicht von einzelnen „Rettern“ – zumal im Ministersessel – ab, sondern von dem ganzen inneren Zusammenhang der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse des Landes. Daß mitten

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[1] Nach Eröffnung der Revision des Dreyfus-Prozesses waren am 12. August 1899 eine Anzahl Gegner dieser Revision verhaftet worden. Während dieser Aktion hatte sich der Führer der Antisemiten, Guérin, in einem Haus der Rue Chabrol in Paris verschanzt, um der Verhaftung zu entgehen. Da er gedroht hatte, bei gewaltsamem Eindringen das Feuer zu eröffnen, blockierte die Regierung das Haus und hungerte ihn aus. Am 19. September 1899 war Guérin gezwungen, sich zu ergeben. Am 4. Januar 1900 wurde er vom Staatsgerichtshof zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt.

[2] Am 4. Juni 1899 waren in Auteuil bei Paris einige Monarchisten aus Protest gegen die Revision des Dreyfus-Prozesses tätlich gegen den französischen Präsidenten vorgegangen.

[3] Paul Déroulède hatte am 23. Februar 1899 im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre General Roget öffentlich aufgefordert, einen militärischen Staatsstreich durchzuführen. Déreulède wurde verhaftet und am 4. Januar 1900 zu 10 Jahren Verbannung verurteilt.