Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 206

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/206

geben. Möglich, daß jetzt im offenen Zusammenstoß mit der bewaffneten Gewalt das Volk unterliegen müßte. Es fällt uns deshalb nicht ein, den belgischen Führern etwa den Vorwurf zu machen, daß sie nach dem Erschöpfen der parlamentarischen, der gesetzlichen Mittel nicht den Appell an die Gewalt machen.

Aber irgendeine Führung, irgendeine klare und konsequente Taktik müßten sie jedenfalls haben. Und ihr Handeln zeigt das direkte Gegenteil davon. Da ist bloß eine Reihe von Zügen und Gegenzügen zu bemerken, ein chaotisches Tasten, ein unentschlossenes Hin- und Herwanken.

Wollten die belgischen Führer sich bloß auf den parlamentarischen Kampf beschränken, so hätten sie nicht so oft und so viel mit „äußersten Mitteln“, mit Revolution, mit Blutvergießen, mit Lebensopfern drohen und die Massen auf die Beine bringen sollen.

Wollten sie sich hingegen auf die Masse, auf die außerparlamentarische Aktion stützen, dann waren ihre krampfhaften Anstrengungen unbegreiflich, den parlamentarischen Kampf möglichst in die Länge zu ziehen und, nun er ausgegangen, die Aktion der Massen schleunigst zu ersticken.

Erwarten sie im Ernst eine liberal-sozialistische Mehrheit bei etwaigen Neuwahlen auch noch unter dem geltenden Pluralwahlsystem[1], wie es in der zitierten liberalen Erklärung heißt, so bleibt es unerklärlich, weshalb sie in der Kammer schwiegen und sich jeder Meinungsäußerung enthielten, als die Liberalen bereits vor einer Woche die Kammerauflösung und Neuwahlen forderten. Und noch unerklärlicher ist es, weshalb sie das ganze jetzige Rumoren, diese ganze mit so vielen Opfern verbundene Bewegung ins Leben gerufen, da es doch nur galt, ruhig die paar Jahre bis zu den regelmäßigen Neuwahlen zu warten, um die klerikale Mehrheit zu zerschmettern.

Halten aber die belgischen Führer (wie auch wir) die Besiegung der Klerikalen unter dem heutigen Wahlsystem für ausgeschlossen, also auch das schöne Versprechen der Liberalen für ein bloßes Geschwätz, für ein bloßes Mittel, die aufgeregte Arbeiterschaft nun zum Aufgeben des Generalstreiks zu bewegen, so ist es unbegreiflich, weshalb sie diese falschen Vorspiegelungen der Liberalen mitmachen und den Arbeitern die einzige richtige Waffe, die selbständige Massenaktion, aus der Hand reißen wollen.

Sollte endlich der ganze Kampf von vorneherein in gesetzlichen Schranken bleiben, dann sehen wir nicht ein, wozu überhaupt der Generalstreik

Nächste Seite »



[1] Das Pluralwahlsystem ist ein undemokratisches System, bei dem Wähler mit höherer Schulbildung, mit bestimmtem Steueraufkommen usw. mehr als eine Stimme abgeben können.