Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 188

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ohne jede Sorgfalt in dem äußeren Gewand, ohne das ganze Brimborium der Naturbeschreibungen, Milieuzeichnungen, ja meistens ohne jede Fabel.

Aber gerade in dieser äußeren Abgerissenheit, in der Formnachlässigkeit, in dem Fieberhaft-Eiligen der aufs Papier geworfenen Silhouetten, Lagen und Begebnisse, in der ganzen äußeren Disharmonie der Uspenski-Literatur widerspiegelte sich künstlerisch am treuesten das eigenartige Rußland der 60er und 70er Jahre. Und die Form entsprach auch am besten dem ganz neuen Sujet, das Uspenski zum erstenmal in der russischen Literatur bühnenfähig gemacht. Statt der warmen, lindenbeschatteten Adelsnester und der schöngeistigen Salons, in denen sich die Literatur der 40er und 50er Jahre bewegt, werden wir in den 60er Jahren plötzlich auf die Marktstraße geführt, in kleine Kramläden, in verfallene Baracken der Vorstadt, in lärmende und qualmige Schänken, auf die Wolgakähne, in die Fischerhütten, auf Landwege, um die Bekanntschaft einer ganzen bunten Gesellschaft von dunklen Gestalten: versoffener Soldaten a. D., alter verlumpter Weiber, räsonnierender Handwerksgesellen, kleiner Beamter, vor allem aber – des echten russischen Bauern, zu machen.

Hin und wieder waren freilich solche salonunfähigen Gesellen auch in der früheren „ästhetischen“ Literatur Rußlands erschienen. Allein es war dies entweder eine tränenreiche Armeleutemalerei oder aber die Schilderung allgemeinmenschlicher psychologischer Erscheinungen im Volksleben, wie dies z. B. in den modernen Bauernnovellen der französischen Belletristik der Fall ist. Uspenski spürte nicht dem Psychologisch-Menschlichen, dem Allgemeinen und Abstrakten in den Volkstypen nach, nein, er schilderte sie gerade in ihrem sozialen Dasein, in den besonderen Zuständen, in die sie die Reformkrise der 60er Jahre versetzt hatte. Die Inkohärenzen des reformierten Rußlands, den Zusammenprall des Alten mit dem Neuen, die Widersprüche und Konflikte im Leben des arbeitenden und darbenden Rußlands, seine „kranke Seele, krankes Gewissen“ zu schildern, das war seine Aufgabe. Was Wunder, daß er da nicht Zeit und Lust fand, an seinen Werken sorgfältig zu feilen und sie, wie der alte Gogol noch in den 40er Jahren riet, sieben- bis achtmal umzuarbeiten, daß er kein Auge für Sonnenauf und -niedergänge, kein Ohr für das Rauschen der reifen Felder hatte, die noch Turgenjew mit so schöner Behaglichkeit schilderte. In dem Rußland der damaligen Zeit war alles Gleichgewicht – auch das relative Gleichgewicht der leibeigenen Periode – vorbei; der echte Künstler, das echte Kind seiner Zeit, konnte nicht mehr Gleichgewicht in seinen Schöpfungen finden, und gerade dadurch würde er zum Liebling der jungen rus-

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