Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 187

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Die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Herstellung der persönlichen Freiheit für die Millionenmasse des Bauerntums, die Einführung von Geschworenengerichten, der Zusammenbruch der alten, auf Frondiensten gegründeten Adelsnester, die Reform des Schulwesens, das Frauenstudium, die Finanzreform und die Einführung der Geldwirtschaft, das alles mußte in seinem Gefolge auch eine Umwälzung in den alten Formen des Familienlebens, der Gesittung, der Denkweise herbeiführen, eine neue Ideenwelt, neue Pflichtbegriffe, neue Empfindungen der persönlichen Ehre und Würde schaffen. Das Rußland jener Zeit stellte denn auch ein ganz eigenartiges, höchst buntes, innerlich zerzaustes, krauses, widerspruchsvolles Ganzes dar. Auf Schritt und Tritt begegnen sich hier, wie in allen heftigen geschichtlichen Krisen, Überbleibsel alter mit Ansätzen neuer Zustände, alte psychologische Gewohnheiten mußten sich mit neuen materiellen Verhältnissen abfinden, und neue geistige Formen wurden vielfach auf alte soziale Zustände aufgepfropft.

Es ist klar, daß eine so eigenartige Epoche auch ihren adäquaten literarischen Ausdruck finden mußte, und diesen gab ihr eben Uspenski mit seinen Genossen. Es war dies von vornherein eine neue Generation von Schriftstellern, die damals in Rußland auf die Welt kam. Statt des feingebildeten, gutsituierten Adeligen, der in den 40er Jahren eine glänzende Literatur in Rußland geschaffen hatte, der an den deutschen Universitäten studiert hatte, seinen Hegel besser als mancher deutsche Berufsphilosoph kannte und die Feder nur aus innerem Drange, nicht aus Not führte, sehen wir hier in den 60er Jahren zum erstenmal jene Schicht der deklassierten, meistens armen, nur im harten Ringen mit der Not ihren Weg sich bahnenden „Intelligenz“ entstehen, die später noch in den Schicksalen Rußlands eine so große Rolle spielen sollte. Mit dem geistigen Leben des Westens nur ungenau bekannt, schon in der frühen Jugend zum Kampfe ums Brot gezwungen, sahen sich diese echten Sprößlinge des jungen „reformierten“ Rußlands vor eine ganze Masse frappantester sozialer Erscheinungen, schreiendster Widersprüche und schwierigster sozialer Fragen gestellt.

Das Schriftstellertum der Uspenski-Gruppe entsprach denn auch ganz in seiner Eigentümlichkeit den Besonderheiten ihres sozialen Milieus wie ihrer Herkunft. Die literarische Form, deren sie sich vorzugsweise bediente, entspricht nicht den hergebrachten Erfordernissen der Leitfäden der Schulliteratur. Es waren dies weder Romane noch Novellen, noch Skizzen, sondern meistens ziemlich formlose, abgerissene Erzählungen, Reiseeindrücke, zufällig belauschte Gespräche, Notizbuchbetrachtungen,

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