Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 184

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stillschweigend unter den Tisch schiebt und sich offen zu jeder Eventualität bereitet, so zeigt sie dadurch mit aller Deutlichkeit, daß sie die „liberale“ Unterstützung selbst für das nimmt, was sie tatsächlich ist: eine zufällige und vorübergehende Kameradschaft auf einer Strecke des gemeinsamen Weges, die man wohl auf dem Marsch akzeptiert, der zuliebe man aber nicht einen Schritt vom vorgezeichneten Wege abweicht.

Dies beweist aber logischerweise, daß auch der angebliche „praktische Vorteil“, dem man das Frauenstimmrecht geopfert hat, nur ein Popanz ist. Und es stellt sich dabei heraus, was auch anderwärts, auch bei uns daheim, regelmäßig beobachtet werden kann, daß jedesmal, wo lustige Kompromißprojekte auf Kosten unserer Grundsätze auftauchen, es sich in Wirklichkeit nicht um die eingebildeten „praktischen Errungenschaften“, sondern um die Aufopferung von Programmforderungen handelt, die unseren „praktischen Politikern“ im Grunde genommen an sich Hekuba, formalistischer Plunder sind, der nur so lange mitgeschleppt und nachgebetet wurde, als er keine praktische Bedeutung hatte.

Das Frauenstimmrecht wurde in den Reihen der belgischen Sozialdemokratie nicht nur als Programmpunkt stets und allgemein anerkannt, sondern die Arbeitervertreter im Parlament votierten einstimmig dafür im Parlament im Jahre 1895. Allerdings hatte die Frage bis jetzt in Belgien wie sonst in den europäischen Ländern gar keine Aussicht auf Verwirklichung. Heute droht sie zum erstenmal zu einer Frage der Tagespolitik zu werden, und nun stellt es sich plötzlich heraus, daß in den Reihen der Arbeiterpartei durchaus nicht eine Meinung über die alte Programmforderung herrscht. Ja noch besser, nach der Äußerung Dewinnes auf dem Brüsseler Kongreß „nimmt die ganze Partei in der Frage des Frauenstimmrechts eine ablehnende Haltung ein“!

Das überraschendste Schauspiel bietet aber die Beweisführung der belgischen Sozialdemokraten gegen das Frauenwahlrecht. Es sind dies genau dieselben Argumente, deren sich jetzt der russische Zarismus, deren sich weiland das deutsche Gottesgnadentum bediente, um sein politisches Unrecht zu rechtfertigen: „Das Volk ist noch nicht reif zur Ausübung des Wahlrechts.“ Als ob es für das Volk eine andere Schule der politischen Reife geben könnte als die Ausübung der politischen Rechte selbst! Als ob die männliche Arbeiterklasse nicht auch erst allmählich den Stimmzettel als Waffe ihrer Klasseninteressen zu gebrauchen gelernt hat und noch immer lernen muß!

Im Gegenteil, von der Hineinbeziehung der proletarischen Frauen in das politische Leben muß jeder klar Denkende über kurz oder lang nur

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