einen mächtigen Aufschwung der Arbeiterbewegung erwarten. Nicht nur eröffnet diese Perspektive ein enormes neues Feld für die agitatorische Arbeit der Sozialdemokratie. Auch in ihr politisches und geistiges Leben müßte mit der politischen Emanzipation der Frauen ein starker frischer Wind hineinwehen, der die Stickluft des jetzigen philisterhaften Familienlebens vertreiben würde, das so unverkennbar auch auf unsere Parteimitglieder, Arbeiter wie Führer, abfärbt.
Allerdings, in der ersten Zeit könnten ganz fatale politische Ergebnisse, wie die Stärkung der klerikalen Herrschaft, die Folge des Frauenstimmrechts in Belgien sein. Auch würde die gesamte Organisation und Agitation der Arbeiterpartei gründlich umgestaltet werden müssen. Mit einem Wort, die politische Gleichberechtigung der Frauen ist ein kühnes und großes politisches Experiment.
Allein merkwürdigerweise lassen sich alle diejenigen, die für die „Experimente“ in der Art Millerands[1] die größte Bewunderung haben und den Mut dieser Experimente nicht hoch genug einschätzen können, nicht mit einem Worte des Tadels für die belgischen Genossen, die vor dem Experiment mit dem Frauenstimmrecht zurückschrecken, vernehmen. Ja, gerade der belgische Führer Anseele, der sich seinerzeit beeilte, als der erste dem „Genossen“ Millerand seine Glückwünsche zu dessen „kühnem“ ministeriellem Experiment darzubringen, ist heute der entschiedenste Gegner aller Versuche mit dem Stimmrecht der Frauen in seinem eigenen Lande. Hier haben wir u. a. wieder einen Beleg dafür, welcher Art jener „Mut“ ist, den uns die „praktischen Politiker“ gelegentlich empfehlen. Es ist dies offenbar nur der Mut, opportunistische Experimente mit der Preisgabe der sozialdemokratischen Prinzipien zu machen. Wenn es sich aber um eine kühne Anwendung unserer Programmforderungen handelt, so zeigen dieselben „praktischen Politiker“ nicht die geringste Lust, durch Mut zu imponieren, und suchen vielmehr nach Vorwänden, um den betreffenden Programmpunkt „vorläufig“ und unter „großem Schmerz“ im Stiche zu lassen.
Leipziger Volkszeitung,
Nr. 76 vom 4. April 1902.
[1] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.