Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 168

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grammphrase hatte ja in der früheren Periode auch lediglich dazu gedient, die Unterstützung der sozialistisch-radikalen Linken zu erkaufen. Nachdem diese Unterstützung bereits ohne jede Gegenleistung gratis gesichert war, konnte der Mohr, der seine Arbeit getan hatte, gehen. Die Phrase wurde fortgelassen, und das Portefeuille sans phrase blieb als einziger Niederschlag der „republikanischen Verteidigung“ übrig.

Die programmlose Programmrede des Ministerpräsidenten von St Etienne war die offizielle Konstatierung der Tatsache, daß die Ära der Krise in Frankreich abgeschlossen ist. Alle außergewöhnlichen Kostüme, Gesten und Redensarten werden abgelegt, die gewöhnlichen traditionellen Umgangsformen wiederaufgenommen. Zur Gewinnung der Wählermassen aus dem Proletariat und dem Kleinbürgertum schleudert der Ministerpräsident in seiner Rede Zornesblitze auf die Häupter der angeblich gegen ihn im stillen konspirierenden Nationalisten – derselben Nationalisten, die nur unter Aufbietung der höchsten Selbstverleugnung und mit Aufopferung der eigenen Prinzipien gegen ihn zu opponieren vermögen. Gegen katholische Orden wird einiges Rumoren inszeniert – gegen dieselben Orden, deren Filialen in China man soeben eine offizielle Glorifikation in der Kammer und zirka 50 Millionen aus der Tasche der Steuerzahler hat zugute kommen lassen. Und der Handelsminister macht wieder Geschäftsreisen im Lande, um die Arbeiterschaft – zwei Monate vor den Wahlen! – daran zu erinnern, daß er die sozialistische Partei immer noch „die seine“ nennt.

Dies sind aber keine außerordentlichen Erscheinungen mehr, sondern die übliche Szenerie des Wahltheaters in der Dritten Republik, in deren Arrangement die zahllosen bisherigen Ministerien aller Schattierungen bereits eine feste Routine herausgebildet haben.

Was ist nun im Laufe dieser Evolution aus der „neuen Methode“ des ministeriellen Sozialismus geworden? Wir haben gesehen, ihre Entwicklung war von Anfang an nur ein passiver Reflex der Bewegungen des radikalen Ministeriums.

In der ersten Phase der Ära Millerand, während der achtzehnmonatigen Vorbereitungen des Ministeriums zur welterschütternden Tat der republikanischen Verteidigung, fiel es der „neuen Methode“ als Aufgabe zu, die Erwartungen und Hoffnungen auf die Regierungspolitik wachzurufen, aufrechtzuerhalten und aufs höchste zu spannen. Es war dies die Periode der „Verheißungen“ sowohl auf seiten der Regierung wie ihres sozialistischen Anhanges.

Dann erfolgte die zweite Phase – die der „Erfüllung“: das Amnestie-

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