Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 167

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neten, daß im Grunde genommen ihre ganze Politik nichts als die Erhaltung des gegenwärtigen Ministeriums zum Zwecke hatte. Heute aber ist diese Tatsache völlig unverhüllt zum Vorschein gekommen. Die scheinbare Rolle der sozialistischen Mitwirkung an einem demokratischen Reformwerk wurde nach dem Fortfall des demokratischen Scheines der Regierungspolitik auch ihrerseits auf den wahren Kern – auf die Rolle des ministeriellen Stimmviehs reduziert.

So hat sich die Situation in Frankreich im letzten Halbjahr in ihrer logischen Weiterentwicklung nach jeder Richtung geklärt und vereinfacht, zugleich aber durch die letzte Verschiebung unmerklich zum direkten Gegensatz ihres Ausgangspunktes vor drei Jahren entwickelt.

Der Ausgangspunkt der Periode Waldeck–Millerand war ja das große demokratische und soziale Reformprogramm! Die Verteidigung und Sanierung der Republik erklärte die Bildung des radikalen Kabinetts. Sie legitimierte den Eintritt eines Sozialisten in die Regierung, sie begründete die Politik der republikanischen Sammlung in der Kammer, sie rechtfertigte alle prinzipiellen Opfer der Sozialisten. Dieses Werk erwies sich bereits in der zweiten Periode der ministeriellen Episode als eine Phrase. Gleichwohl führte es wenigstens in dieser Gestalt ein formelles Dasein. Mit der gegenwärtigen Ablegung der Phrase verdampfte auch der letzte Rest des Programms der „republikanischen Verteidigung“, und die Regierung zeigte sich mit einem Male ohne jedes Programm!

Eine Kundgebung dieser Tatsache war die vielbesprochene große Wahlrede des Ministerpräsidenten Waldeck-Rousseau in St Etienne am 12. Januar. Neben einer mit unparteiischer Selbstglorifikation zur Schau gestellten Revue aller bereits vollbrachten Großtaten der Regierung erwähnte sie auch nicht mit einer Silbe die bevorstehenden Aufgaben, die beabsichtigten künftigen Taten. Weder eine Reform der Armee noch die Trennung der Kirche vom Staate, noch soziale Reformen, noch sonstige „Verteidigung der Republik“ wurden nunmehr in Aussicht gestellt. Dieses Stillschweigen des Ministerpräsidenten in bezug auf die Zukunft hat in Frankreich allgemeine Bestürzung hervorgerufen. Naivere Bürgerlich-Radikale, wie Lacroix im „Radical“, forderten wenigstens ein anderes Mitglied der Regierung zur Aufstellung eines Regierungsprogramms auf. Sie verstanden nicht, daß das Stillschweigen des Kabinettschefs nur ein adäquater Ausdruck der einfachen Tatsache war, daß das radikale Ministerium überhaupt kein politisches Programm mehr besitzt, außer dem allerdings ganz aufrichtigen Wunsche, sich – gleichviel, mit welcher Majorität und gleichviel, welchem Programm – am Ruder zu erhalten. Die Pro-

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