Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 165

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Die schroffe Wendung des Ministeriums zum offenen Nationalismus in der Frage der Chinaanleihe schuf sowohl für die Rechte wie für die Linke des Parlaments eine eigentümliche Lage. Das Kabinett Waldeck–Millerand trat ja von Anfang an als ein Schreckbild für die Nationalisten und Mélinisten auf und wurde als solches von seinen Anhängern auf Schritt und Tritt verteidigt und „gerettet“. Die ganze parlamentarische Taktik der Rechten war in der vergangenen Session darauf gerichtet, das Kabinett durch allerlei unverhoffte Manöver zu stürzen. Nunmehr sahen sich die „Erzfeinde der Republik“ genötigt, dem radikal-sozialistischen Kabinett mit ihren eigenen Stimmen ein Vertrauensvotum zu geben. Der wichtigste Moment im letzten Halbjahr – die Votierung der Chinaanleihe – hat die Nationalisten in das Lager der Regierung geführt.

Es war damit durchaus keine neue Tatsache geschaffen. Die Politik des Kabinetts Waldeck–Millerand war von Anfang an in ihrem Wesen der Politik eines mélinistischen Kabinetts gleich und bereitete dadurch der Gruppe Méline eine regelrechte politische Schmutzkonkurrenz. In der verflossenen Parlamentssession jedoch erlaubten es die Scheinmanöver der Regierung gegen die Armee und den Klerus den Mélinisten, ihren Brotneid hinter einer „prinzipiellen“ Gegnerschaft allgemeiner Natur zu verstecken. Gegenwärtig sind sie entwaffnet und gezwungen, offen zu gestehen: was sie mit der Regierung zusammenführt, sind gerade Prinzipien der Politik; was sie trennt, ist lediglich Portefeuilleneid.

Der Verzicht auf alle antinationalistischen Manöver seitens der Regierung hat deshalb im Lager der Reaktion eine begreifliche Verwirrung angerichtet. Sollten die Reaktionäre nun die „radikal-sozialistische Regierung“ unterstützen oder sie nach wie vor bekämpfen? Sollten sie die Prinzipien oder die Portefeuilles voranstellen? Der über diese taktische Frage auf der Rechten entbrannte Streit war ein treues Spiegelbild der Kämpfe innerhalb des sozialistischen Lagers. Wenn hier Jaurès, seiner Rolle treu, zur blinden Unterstützung der Regierung auch bei der Chinaanleihe entgegen den sozialistischen Prinzipien mahnte, auch wenn dies für seine Genossen „nicht ohne Pein“ sein sollte, so übernahm diese Rolle auf der Rechten der monarchistische „Gaulois“. Ganz im Stile Jaurèsʼ rief er am 28. November die Truppen der Reaktion zum mutigen Kampfe gegen die Regierung, trotz schmerzlichster Aufopferung der Prinzipien:

„Mögen sie entschlossen gegen das Ministerium marschieren, und wenn der Erfolg ihre Mühe krönt, werden sie sich gehobenen Hauptes und ruhigen Herzens vor ihre Wähler stellen können. Und sollten sie etwa beschuldigt werden, sich mit den Prinzipien einige Freiheit genommen zu

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