Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 163

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Auf dem Gebiet der Sozialreform brachte die gegenwärtige Session außer einer geringen Verkürzung der Arbeitszeit für die Bergarbeiter, die nun dem Senat zur voraussichtlichen Einsargung überantwortet worden ist, noch eine andere bezeichnende Kundgebung der Regierung. Es war dies die schroffe Ablehnung des von der Kammer am 14. November zum dritten Male seit 1880 votierten Antrags der gesetzlichen Einführung des zehnstündigen Arbeitstags für Eisenbahnarbeiter und -angestellte. Auf die mannigfachen sozialreformerischen Dekrete des Handelsministers erfolgte im letzten Halbjahr eine Reihe Bewilligungen von Unternehmergesuchen zur Verlängerung der Arbeitszeit über die gesetzliche Schranke hinaus.[1] Und was der Millerandschen „Sozialreform“ die Krone aufgesetzt hat, das ist die Ablehnung durch alle gerichtlichen Instanzen der wiederholten Klagen der Fabrikinspektoren über Wiedereinführung des Vierschichtenwechsels für erwachsene Arbeiter, womit auch das berühmte Gesetz über den Zehnstundentag[2] in seiner Hauptbestimmung als eine leere Hülse erwiesen wurde.

Aber zum Zentralpunkt der gegenwärtigen Parlamentssession und zum entscheidenden Moment für die Situation nach allen Seiten hin wurde das Verhalten der Regierung bei der Votierung der Chinaanleihe.[3]

Die Hauptaufgabe der „republikanischen Verteidigung“ des Kabinetts Waldeck-Rousseau war ja bekanntlich der Kampf gegen den Klerikalismus. Die ganze Dreyfus-Kampagne, die ganze Krise seit drei Jahren drehte sich um die „Infame“ und ihre infamen Diener und Bundesgenossen. In der vorigen Periode sollte diesem Kampfe das famose Assoziationsgesetz dienen, das neben ganz imaginären Schwertstreichen gegen den Klerus sehr handgreifliche gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter führte. Auf diese zwieschlächtige Taktik erfolgte nunmehr eine ganz unzweideutige und mit keinem Scheingeschenk an die Demokratie verbrämte Liebesgabe an die Kirche in Gestalt von zirka 50 Millionen Francs zur „Entschädigung“ der katholischen Missionen in China für Verluste im letzten Kriege und zugleich eine noch eklatantere Huldigung in einer Kammerrede des Ministerpräsidenten am 18. November.

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[1] So zum Beispiel im Konditorgewerbe vor Weihnachten, trotzdem die Gewerkschaft der Konditoren dagegen unter Hinweis auf die große Reserve der Arbeitslosen heftig protestierte. [Fußnote im Original]

[2] Dieses Gesetz vom Frühjahr 1900 sah für einen großen Teil der französischen Arbeiter die Herabsetzung der Arbeitszeit zunächst auf 11 Stunden und im Verlauf von vier Jahren auf 10 Stunden vor. (Siehe dazu Rosa Luxemburg: Die sozialistische Krise in Frankreich. In: GW, Bd. 1/2, S. 44–46.)

[3] Ende Oktober 1901 war von der französischen Regierung eine Vorlage in der Kammer eingebracht worden, zur Deckung der Kosten für die Teilnahme französischer Truppen an der Niederschlagung der nationalen Befreiungsbewegung in China 1900 eine Anleihe aufzulegen. Diese Vorlage war am 25. November 1901 mit 295 gegen 249 Stimmen gebilligt worden.