Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 162

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halten. Somit konnte die Regierung getrost einen Schritt weitergehen und auch den Schein von Konzessionen an ihre sozialistischen und linksradikalen Anhänger fallenlassen. Die gegenwärtige parlamentarische Session zeigt uns die Politik des Ministeriums in dem neuen Stadium; jene Zwieschlächtigkeit, die das Signum der verflossenen Session war, hat auf allen Gebieten einer ganz unzweideutigen Einheitlichkeit Platz gemacht.

Auf dem Gebiet des Kampfes mit den Auswüchsen des Militarismus folgt auf die früheren Versprechungen, dem hohen Militär Zügel anzulegen, eine Reihe von Maßnahmen, die umgekehrt den Zweck haben, allen Gegnern des stehenden Heeres und Befürwortern des Milizwesens einen Maulkorb anzulegen. Der sozialistische Bürgermeister von Bourges, Vaillandet, wird wegen einer Rede an die Rekruten seines Amtes entsetzt, in der er sie an die Gebote der Menschlichkeit und Nächstenliebe erinnerte und vor dem Feuern auf Vater und Mutter warnte. Der Gymnasiallehrer Hervé wird wegen seiner Mitarbeiterschaft an einem antimilitaristischen Blatte gemaßregelt. Der Pariser Professor Lapicque wird infolge seiner Sympathiekundgebung zugunsten des gemaßregelten Kollegen suspendiert. Gegen die Blätter: „Pioupiou de lʼYonne“, „Drapeau Rouge“, „Droit du Peuple“, „Flambeau“ wird wegen milizfreundlicher und sozialistischer Agitation gerichtliche Verfolgung eingeleitet. Gleichzeitig aber dürfen Hochschullehrer, wie in Lyon und Toulouse, dürfen Pfaffen in amtlicher Stellung, wie der Erzbischof von Reims, offen und ungestraft eine antirepublikanische Hetzagitation führen, dürfen in öffentlichen Schulen, wie im Lyzeum zu Alais, Gebete für das Scheitern von Regierungsvorlagen veranstaltet werden.

Auf dem Gebiet der auswärtigen Politik bezeichnen den jetzigen Geist der radikal-sozialistischen Regierung die Chinaexpedition[1] unter völliger Umgehung der Volksvertretung, die türkische Expedition[2], in der die französische Kriegsflotte unter dem Vorwand von Kaistreitigkeiten am Bosporus, in Wirklichkeit zur Eintreibung von Schuldforderungen zweier Bankhäuser, Lorando und Tubini, an die Pforte, verwendet wurde, endlich der Zarenempfang[3], der an „republikanischer“ Bauchrutscherei vor dem Absolutismus in der ganzen neueren Geschichte Europas ohne Beispiel dasteht.

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[1] 899 war in Nordchina der Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht imperialistischen Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. In einem Abschlußprotokoll von 1901 wurde China u. a. gezwungen, etwa 1,4 Milliarden Mark Kontributionen zu zahlen und der Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen.

[2] Französische Flotteneinheiten hatten im November 1901 zur Durchsetzung der Forderungen vorübergehend Mytilene besetzt.

[3] Im September 1901 hatte der russische Zar Frankreich einen offiziellen Besuch abgestattet und war vom französischen Präsidenten überschwenglich empfangen worden. In breiten Kreisen der Öffentlichkeit hatte dieser Besuch Empörung ausgelöst.