Wir haben bei unserer Beleuchtung der Politik des französischen Kabinetts in der vorigen Parlamentssession[1] als den hervorstechendsten Zug ihre eigentümliche Zwieschlächtigkeit, die handgreiflichen Konzessionen nach rechts und die Scheinzugeständnisse nach links, bezeichnet. Seitdem hat sich die Situation und mit ihr die Politik des Ministeriums um einen Schritt weiter verschoben. Der Grund der zwieschlächtigen Politik des Ministeriums Waldeck-Rousseau lag einerseits in dem Mangel an einer festen Grundlage im Parlament zur wirklichen konsequenten Politik demokratischer Reformen. Die bunt zusammengesetzte radikal-sozialistische Majorität des Kabinetts hatte sich in allen wichtigeren Fragen als unzuverlässig erwiesen, jederzeit zum reaktionären Umfall bereit und nicht weiterzugehen gewillt, als es zur äußeren Pazifizierung aller durch die Krise aufgewühlten politischen und sozialen Gegensätze unbedingt notwendig. Andererseits war aber das Ministerium von Anfang an auf die Unterstützung der Sozialisten in der Kammer angewiesen. Dieser Umstand zwang die Regierung mindestens zu Scheinkonzessionen an ihr anfängliches Programm, zu demokratischen und sozialen Reformen. Es lag nun an den Sozialisten, den weiteren Gang der Dinge zu bestimmen. Sie konnten durch rücksichtslose Aufdeckung der Zweideutigkeit der „republikanischen“ Politik der Regierung und durch hartnäckige Opposition das Kabinett entweder zu Falle bringen oder aber es wenigstens für eine Zeitlang zu ernsteren Fortschrittsreformen nötigen. Da sie aber in ihrer ausschlaggebenden Mehrzahl im Parlament, durch die Ministerschaft Millerands gebunden, den entgegengesetzten Weg einschlugen, so gaben sie damit die politischen Zügel aus der Hand. Durch ihre konsequente Verteidigung der Regierungspolitik in der „Petite République“, durch die Abstimmungen in der Kammer für jede denkbare Tagesordnung und jeden Gesetzentwurf: für eine Brandmarkung der sozialistischen Prinzipien, für die Unterdrückung einer parlamentarischen Kolonialenquete, für die Amnestierung der Generalstäbler in der Dreyfus-Affäre[2], für das Budget, für Einschränkungen des Koalitionsrechtes durch das sogenannte Assoziationsgesetz[3], kurz, für alles und jedes, sobald es dem Ministerium einfiel, eine Kabinettsfrage zu stellen, durch diese Preisgabe der selbständigen Politik und der Opposition haben die Sozialisten die Regierung von jeder Rücksichtnahme auf sie befreit. Sie haben durch ihr Verhalten bewiesen, daß sie um jeden Preis und unter allen Umständen an dem Ministerium fest-
[1] Siehe Rosa Luxemburg: Die sozialistische Krise in Frankreich. In: GW, Bd. 1/2, S. 5–73.
[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an. – Am 19. Dezember 1900 hatte die französische Kammer ein Amnestiegesetz angenommen, wonach alle politischen Verurteilungen der letzten Jahre mit einigen Ausnahmen aufgehoben werden sollten. Außerdem sollten alle strafbaren Handlungen, die sich an die Dreyfus-Affäre knüpften, als nicht geschehen erklärt werden.
[3] Dieses Gesetz wurde von Januar bis März 1901 in der französischen Deputiertenkammer beraten und von ihr angenommen. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Die sozialistische Krise in Frankreich. In: GW, Bd. 1/2, S. 46–48.