Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 155

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Klasse das konsequente Einnehmen einer andern Stellung unmöglich machte.

Aber diese kritisch-philosophische Geschichtsanschauung, in der sich eherne Notwendigkeit an Notwendigkeit knüpft und die ebendeshalb auslöschend über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinwegfährt, ist ebendarum kein Boden, weder für das praktische revolutionäre Handeln noch für die vorgestellte dramatische Aktion.

Für beide Elemente ist vielmehr die Voraussetzung von der umgestaltenden und entscheidenden Wirksamkeit individuellen Entschließens und Handelns der unerläßliche Boden, ohne den ein dramatisches zündendes Interesse ebenso wie eine kühne Tat nicht möglich ist.“

Hier verteidigt Lassalle u. E. nicht den „individuellen Entschluß“ im Gegensatz zur historischen Notwendigkeit, sondern als Ausdruck, als Medium dieser Notwendigkeit. Denn „wird die entscheidende Wichtigkeit des individuellen Handelns“, schreibt er im gleichen Briefe, „entblößt und getrennt von dem allgemeinen Inhalt, mit dem es operiert und der es bestimmt, in der Tragödie gefeiert (oder sagen wir: als Triebfeder der Geschichte hingestellt – R. L.), so wird sie freilich zur gedankenlosen Ineptie“.[1] Sickingen mußte freilich – und darin hatten Marx und Engels vollkommen recht – mit seinem Unternehmen auf jeden Fall scheitern. Aber die Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens drückte sich für Lassalle in letzter Linie in dem inneren Widerspruch des Sickingenschen Handelns aus. Es waren die historischen Gesetze, die hier entschieden, aber sie wirkten durch den „individuellen Entschluß“.

Was hier zwischen Lassalle und Marx ausgefochten wird, ist – scheint es uns – nicht der Gegensatz der idealistischen und materialistischen Geschichtsauffassung, sondern vielmehr eine Differenz innerhalb der letzteren, welche die beiden bei ihren verschiedenen Momenten packten. Die Menschen machen ihre eigne Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken – sagten Marx und Engels, indem sie ihr Lebenswerk, die gesetzmäßige materialistische Geschichtserklärung, verfochten. Die Menschen machen die Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst – betonte Lassalle, indem er sein Lebenswerk, den „individuellen Entschluß“, die „kühne Tat“, verfocht.

Die materialistische Geschichtsauffassung, aus einer Theorie der Vergangenheit in die der Gegenwart übersetzt, heißt sozialistische Doktrin,

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[1] Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, S. 156.