Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 154

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Nicht in der Kontroverse über Po und Rhein, sondern an einer andren Stelle der Briefe scheint uns deshalb der erste Keim des Marx-Lassalleschen Gegensatzes sich kundgegeben zu haben, nämlich, so seltsam dies auf den ersten Blick scheinen mag, in der gleichzeitig zwischen den beiden Freunden geführten Polemik über das Lassallesche Drama „Franz von Sickingen“. Unter der Form der Diskussion über „die formelle tragische Idee“ des Sickingen hat Lassalle unsres Erachtens in seinen Briefen vom 6. März und 27. Mai 1859 das Eigentliche, Spezifische, was später den Gegensatz seiner Agitation zu der Marx-Engelsschen Auffassung ausgemacht hat, formuliert und verfochten.

Wir deuten damit nicht die ziemlich flache und wohlfeile Beobachtung an, wonach Lassalle im Sickingen sein eignes späteres Schicksal vorgezeichnet haben soll, indem er die strafende Nemesis der „sich realistisch dünkenden Verständigkeit“ zeichnete, die revolutionäre Zwecke durch diplomatische Mittel, durch schlaue Täuschung des Feindes wie der Freunde erreichen will. Auch nicht die andre merkwürdige Auffassung, wonach „Franz von Sickingen“ einen Beleg für die Annäherung Lassalles an die Gesichtspunkte – der kleindeutschen Vulgärdemokratie der 50er Jahre abgeben soll.

Wir meinen den geschichtlichen Spielraum für den „individuellen Entschluß“, den Lassalle in seiner Kontroverse mit Marx und Engels gegen die „Hegelsche konstruktive Geschichtsanschauung“ verteidigte.

Ob und inwieweit Lassalle die historische Rolle Sickingens historisch treu aufgefaßt und geschildert hat, das ist uns hier nebensächlich. Wenn er aber in dem Briefe vom 27. Mai 1859 auf seinem Recht besteht, seinen Helden an dessen subjektivem Widerspruch im Handeln statt, wie Marx und Engels es für richtig hielten, an dem objektiven Widerspruch der Sickingenschen Bestrebungen mit der geschichtlichen Entwicklungstendenz zugrunde gehen zu lassen, so sehen wir darin mehr oder richtiger andres als eine Kundgebung der idealistischen Geschichtsauffassung Lassalles. Was wäre entstanden, fragt Lassalle, wenn Sickingen, statt sich ausschließlich auf den Kleinadel zu stützen, sich zur Führerschaft der Bauernbewegung aufgeschwungen hätte?

„Was entstanden wäre? Geht man von der Hegelschen konstruktiven Geschichtsanschauung aus, der ich ja selbst so wesentlich anhänge, so weiß man sich freilich mit Euch (Marx und Engels – R. L.) zu antworten, daß in letzter Instanz der Untergang doch notwendig eingetreten wäre und eintreten mußte, weil Sickingen, wie Ihr sagt, ein au fond reaktionäres Interesse vertrat, und daß er dies wieder notwendig mußte, weil ihm Zeitgeist und

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