Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 153

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/153

englischen und französischen Sozialismus, unter Ablehnung aller „partiellen Lösungen“ der sozialen Frage – Ricardo als den Ausgangspunkt der sozialistischen Theorie bezeichnet. „Mißverstehe mich nicht“, schreibt er an Marx in dem erwähnten Briefe vom 12. Mai 1851, „wenn ich sage, Sozialist gewordener Ricardo. Aber ich halte in der Tat Ricardo für unseren unmittelbaren Vater. Ich halte seine Definition der Grundrente für die gewaltigste kommunistische Tat.“[1] Freilich ist es zugleich für den verschiedenen Grad von analytischer Tiefe auf beiden Seiten entscheidend, daß, während Marx, auf den Grund der Dinge zurückgehend, die Ricardosche Werttheorie, d. h. die Theorie, welche den Schlüssel zur kapitalistischen Produktionsweise bildet, zum Ausgangspunkt seiner Kritik des Kapitalismus gemacht hat, Lassalle, an der Oberfläche der sozialen Erscheinungen haftend, in der Ricardoschen Grundrententheorie, also auf dem Gebiete der Verteilung, einen solchen Ausgangspunkt zu erblicken glaubte.

Wie sehr Lassalle und Marx in jener Epoche in der Einschätzung der politischen Ereignisse ihrer Zeit zusammentreffen, zeigen die Ausführungen Lassalles über den Napoleonischen Staatsstreich. Man braucht nur den Brief vom 12. Dezember 1851 mit dem bald darauf erschienenen „18. Brumaire“ zu vergleichen, um – bei aller selbstverständlichen Verschiedenheit in der Fassung einer großangelegten geschichtlichen Analyse und eines Bündels leicht hingeworfener Bemerkungen in einem Privatbriefe – von der Übereinstimmung des Urteils frappiert zu werden.

Die erste wichtige Differenz in den Ansichten Lassalles und Marx-Engelsʼ, die in den Briefen zum Ausdruck kommt, ist die bekannte Stellungnahme zum italienischen Kriege. Allein auch hier handelte es sich, wie Lassalle und Marx selbst hervorheben, nicht etwa um prinzipielle, sondern lediglich um taktische Meinungsverschiedenheiten. Insofern Versuche gemacht worden sind, aus der Stellung Lassalles in diesem Falle grundlegende Differenzen zwischen ihm und Marx in bezug auf Nationalismus und Internationalismus herauszudestillieren, so scheitern sie jetzt endgültig. In dieser Beziehung bewährt sich das Wort Bernsteins aus dem Jahre 1892, wonach „diejenigen, die bisher Lassalle als das Muster eines guten Patrioten, im nationalliberalen Sinne dieses Wortes, der Sozialdemokratie von heute gegenüberstellen, nach Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach einzupacken haben“[2] werden.

Nächste Seite »



[1] Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, S. 30 f.

[2] Ferd. Lassalleʼs Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Erster Band, S. 57.