Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 152

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„Daß die gegenwärtige Apathie nicht auf theoretischem Wege überwunden werden kann“, schreibt L. anfangs 1854, „darin hast Du ganz recht. Ich generalisiere diesen Satz sogar dahin: noch niemals ist eine Apathie auf rein theoretischem Wege überwunden worden resp. theoretische Überwindung einer solchen Apathie hat Schüler und Sekten oder verunglückte praktische Bewegungen, noch niemals aber weder eine reale Weltbewegung noch auch eine allgemeine Bewegung der Massengeister erzeugt. Die Massen werden nicht nur praktisch, sondern auch geistig nur durch die Siedehitze tatsächlicher Ereignisse zu Fluß und Bewegung hingerissen.

Doch glaube ich, daß man jetzt eines tun kann, was ich nicht für gering halte. Man kann eine mehr oder weniger große Zahl Proletarier theoretisch bilden und in diesen, in möglichst vielen Städten, dem Proletariat zu (sic!) Vertrauensmännern und geistigen Mittelpunkten für künftige Bewegungen erzeugen, welche dann verhindern, daß sich das Proletariat nochmals zum Chorus für die bürgerlichen Helden hergibt.“[1]

Und dieses Programm entwirft Lassalle nicht nur, sondern er führt es auch mit der größten Hingebung aus, indem er sein Haus in Düsseldorf „zur Burg und zum Wall“ der Arbeiterschaft macht, indem er gleichzeitig den Schriften von Marx und Engels den deutschen Büchermarkt durch alle unzähligen Schwierigkeiten hindurch öffnet, indem er seinen Freunden in London mit Rat und Tat hilft und so ein lebendiges Bindeglied zwischen dem geistigen Zentrum und dem sozialen Boden der deutschen Revolution bildet.

In bezug auf theoretisch-ökonomische Gesichtspunkte äußert sich Lassalles Stellung in den Briefen vorzugsweise durch begeisterte Zustimmung zu Marxʼ Werken: dem Anti-Proudhon[2] wie der „Kritik der Politischen Ökonomie“. Wohlgemerkt zeigt sich auch hier in der Schärfe und Sicherheit des Urteils nicht sowohl die Zustimmung des Schülers an den Meister, sondern vielmehr die eines Gleichgesinnten, der auf Grund selbständigen Nachdenkens zu wesentlich gleichen Ergebnissen gelangt. Wenn Lassalle im Jahre 1851 Karl Marx den „Sozialist gewordenen Ricardo und Ökonom gewordenen Hegel“ nennt, so hat er darin im voraus die geschichtliche Mission Marxens in der Wirtschaftslehre und damit zugleich die spezifische Aufgabe des wissenschaftlichen Sozialismus aufs genaueste formuliert. Es ist nämlich für den ökonomischen Scharfblick Lassalles höchst bezeichnend, daß er – unter ausdrücklicher Ablehnung aller Arten des zeitgenössischen

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[1] Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, Stuttgart 1902. S. 23, 24 f., 34, 70 u. 74.

[2] Karl Marx: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 4, S. 63–182.